Die Trojaner erobern die Ringstraße und die Herzen des Wiener Publikums

Hector Berlioz, Les Troyens, Alain Altinoglu, Joyce DiDonato,  Wiener Staatsoper

Foto: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
Wiener Staatsoper, 
1. November 2018
Hector Berlioz, Les Troyens

von Jürgen Pathy

Bereits zum fünften Mal in dieser Saison erobern die Griechen die Festungen der Ringstraße und die Herzen des Wiener Publikums: David McVicars epochale Inszenierung der tragischen Liebesgeschichte rund um Enée, Didon und die Hellseherin Cassandre setzt neue Maßstäbe – selbst an der Wiener Staatsoper! Hector Berlioz‘ Meisterwerk „Les Troyens“ ist ein Schaulauf der Superlative: ein vollbesetzter Orchestergraben, ein Meer an Statisten, ein Kinderchor, der Staatsopernchor und der Slowakische Philharmonische Chor, das Wiener Staatsballett und eine Riege erstklassiger Sänger bescheren Momente des Staunens, der Freude und der Ergriffenheit.

Alles vereint unter der Ägide des Dirigenten Alain Altinoglu, 43, der mit wenigen Ausnahmen die komplette Partitur des imposanten Opernwerks zum Erklingen bringt. Die atemberaubende Instrumentationskunst des Komponisten Hector Berlioz erweckt in Altinoglu eine offensichtliche Spielfreude, die der Maestro auf alle Protagonisten überträgt: Unter seinen magischen Händen laufen die Musiker des Staatsopernorchesters zur Hochform auf, erstrahlt dieser hochkarätige Rohdiamant im Orchestergraben der Wiener Staatsoper endlich wieder in allen seinen prächtigen Schattierungen – außerordentliches Lob gebührt den Musikern an den Bratschen, an den Celli und dem Herrn an der Klarinette!

Auch den Sängern gibt Altinoglu behutsam die Einsätze, singt regelmäßig leise vor und animiert aufgrund seiner beruhigenden Aura und seiner Souveränität beinahe alle Hauptdarsteller zu Höchstleistungen.

Angefangen bei Anna Caterina Antonacci, deren beeindruckende Darstellung der trojanischen Prophetin Cassandre regelmäßig Gänsehautmomente beschert – schon alleine der optischen Eindrücke wegen: Wie sich die mittlerweile 57-jährige Italienerin auf der Bühne rekelt, biegt und schmiegt, dürfte selbst bei der ein oder anderen Ballett-Compagnie für Furore sorgen. Die Mezzosopranistin beeindruckt aber in allen Belangen: Bühnenpräsenz, Schauspiel und Gesang – Antonacci spielt nicht nur eine Rolle, die Italienerin verwandelt sich mit Haut und Haaren in die verzweifelte Seherin, deren Prophezeiungen keiner Glauben schenken möchte!

Auch in den mittleren und kleineren Partien dieser Grand ópera kann der überwiegende Teil der Sänger überzeugen. Vor allem bei den tiefen, dunklen Stimmen kann Staatsoperndirektor Dominique Meyer, 63, aus einem sagenhaften Ensemble schöpfen. Zu dieser auserkorenen Gesellschaft dürfen sich seit dieser Saison auch zwei Neulinge im Haus am Ring zählen, deren Karrieren man nicht aus dem Blick verlieren sollte: der Slowake Peter Kellner, 29, als Panthée, und Anthony Robin Schneider als Schatten des Hector – hier bahnen sich zwei tiefe Stimmen ihren Weg an die Spitze.

Dort seit geraumer Zeit verankert der wieder einmal hervorragende Jongmin Park, dessen wuchtiger Bass auch in der sanften, schlichten Kavatine des Narbal alle Blicke auf sich ziehen kann. Und an diesem Abend mehr als nur verlässlich der tschechische Bariton Adam Plachetka, der als Chorèbe sehr viril und nobel sein Mitgefühl und seine Angst um das trojanische Volk zum Ausdruck bringt.

Etwas durchwachsen fällt das Fazit bei den Tenören aus. Paolo Fanale ergattert nach der Arie des Iopas („Assez ma soeur“) zwar Szenenapplaus, dennoch wirkt die Stimme des Italieners an diesem Abend weder unschuldig noch jugendhaft-lyrisch, sondern zittrig und schwach. Hingegen kann Benjamin Bruns, 38, beim „Matrosenlied“ zu Beginn des fünften Akts seinen lyrischen Tenor geschmeidig entfalten.

Einer Berg- und Talfahrt wiederum gleicht Brandon Jovanovich, 48, in der jugendlich-dramatischen Partie des Enée. Der Amerikaner kann in dieser großen Heldenpartie, die ihm stilistisch und stimmlich eine große Bandbreite an Können abverlangt, vor allem in den lyrischen, leisen Passagen brillieren: Zärtliche Töne im Duett („Nuit d’ivresse“) mit Didon lassen einen dahinschmelzen wie Butter und demonstrieren die große Ausdruckskraft des Amerikaners. Auch bei den heroischen Rezitativen zu Beginn überzeugt Jovanovich noch mit viriler Stimmkraft, jedoch mangelt es dem Sänger an einer entscheidenden Eigenschaft, um im Heldenfach vollends zu reüssieren: an der Ausdauer! Wie bereits bei der Premiere trüben die Spitzentöne, die zum Ende hin alle wegbrechen, seine Gesamtleistung.

Anstelle der erkrankten Szilvia Vörös überzeugt die Mezzosopranistin Margarita Gritskova, 30, in der jugendlich-dramatischen Partie der Anna.

Last not least der alles überstrahlende Stern dieser Produktion: Joyce DiDonato, 49, als Didon. Egal ob lyrisch, dramatisch oder im zarten „Mezzavoce“, wie beim Duett mit Enée: die vokale Flexibilität und die Darstellungskraft der Grammygewinnerin sind atemberaubend – die anmutige Joyce DiDonato ist nicht nur die Königin der Punier, sondern auch der Wiener Staatsoper. Alleine wegen des ergreifenden Gesangs der amerikanischen Mezzosopranistin bei der Abschiedsszene, der Arie „Adieu, fière cité„, würde sich der Besuch dieser Oper lohnen – haben zuvor noch alle gegen die Griechen gekämpft, so kämpft jetzt jeder mit den Tränen. Jeder, der das ehrwürdige Haus bereits nach der zweiten Pause verlassen hat, hat Einzigartiges versäumt.

Dieses opulente Spektakel, dessen teils kammermusikalische Orchestrierung und herzergreifende Arien auch an die Barockoper erinnern, gleicht einem süßen Traum aus Tausend und einer Nacht. Selbst das junge Mädchen neben mir in der ersten Parterre-Loge wurde von dieser surrealen Märchenwelt verzaubert und von einer narkotischen Klangwolke umhüllt: vier Stunden Nettospielzeit und trotz des „etwas vielen Gesinges“ kein einziges Geräusch – das Faszinosum Oper, das Faszinosum der Trojaner!

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 3. November 2018, für
klassik-begeistert.at und klassik-begeistert.de

Alain Altinoglu, Dirigent
David McVicar, Regie
Es Devlin, Bühne
Moritz Junge, Kostüme
Wolfgang Goebbel / Pia Virolainen, Licht
Lynne Page, Choreographie
Leah Hausman, Regiemitarbeit
Gemma Payne, Choreographische Einstudierung
Marie Lambert, Regieassistenz

Brandon Jovanovich, Énée
Joyce DiDonato, Didon
Anna Caterina Antonacci,Cassandre
Adam Plachetka, Chorèbe
Peter Kellner, Panthée
Jongmin Park, Narbal
Paolo Fanale, Iopas
Rachel Frenkel, Ascagne
Margarita Gritskova, Anna
Benjamin Bruns, Hylas
Alexandru Moisiuc, Priam
Orhan Yildiz, griechischer Heerführer
Anthony Schneider, Schatten des Hector
Wolfram Igor Derntl, Hélénus
Marcus Pelz, erster trojanischer Soldat
Ferdinand Pfeiffer, zweiter trojanischer Soldat
Igor Onishchenko, Soldat

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert