Eisiges Leuchten aus dem Norden: Helsinki Philharmonic begeistert in der Alten Oper

Helsinki Philharmonic Orchestra, Jukka-Pekka Saraste  Alte Oper Frankfurt, 23. November 2025

© Alte Oper Frankfurt/Tibor-Florestan Pluto

Das Helsinki Philharmonic unter Jukka-Pekka Saraste ist derzeit in einer Form, die kaum zu übertreffen ist. Sie spielen Sibelius nicht – sie sind Sibelius. Guido Sant’Anna ist ein besonderes Talent, das gerade erst beginnt, die Geigerwelt aufzumischen. Und wer gestern in der Alten Oper war, hat einen jener Abende erlebt, an die man sich noch länger erinnern wird. Ein Konzert, das unter die Haut ging – und dort hoffentlich lange nachglüht.

Outi Tarkiainen  „Songs of the Ice“

Jean Sibelius Violinkonzert d-Moll op. 47

Jean Sibelius Sinfonie Nr. 1 e-Moll op. 39


Guido Sant’Anna,
Violine

Helsinki Philharmonic Orchestra
Jukka-Pekka Saraste, musikalische Leitung

Alte Oper Frankfurt, 23. November 2025

von Dirk Schauß

Am 23. November 2025 lag Frankfurt unter einer dünnen, frischen Schneeschicht, die Luft biss, und die Alte Oper schien sich geradezu zu freuen, endlich wieder einmal richtig finnisch durchgefroren zu werden. Das Helsinki Philharmonic Orchestra, eines der besten Ensembles Skandinaviens, gastierte unter seinem Chefdirigenten Jukka-Pekka Saraste mit einem Programm, das kälter, klarer und ehrlicher nicht hätte sein können: pure nordische Seele, von der Gegenwart bis ins Herz der Romantik.

Den Anfang machte Outi Tarkiainens „Songs of the Ice“, ein 2019 entstandenes Orchesterstück, das der Komponistin während ihrer zweiten Schwangerschaft einfiel und dem 2014 für tot erklärten isländischen Gletscher Okjökull gewidmet ist. Zwölf Minuten, in denen man das Eis tatsächlich atmen hört. Der Beginn ist brutal schön: tiefe Streicher- und Blechwellen rollen heran, werden immer mächtiger, brechen schließlich mit einem gewaltigen Schlag in tausend funkelnde Kristalle. Dann setzen die Wind-Soli ein – einsame, klagende Oboen und Englischhorn, die sich allmählich in schrille Piccolo-Warnschreie steigern. Man spürt die Kälte, das Knirschen, das langsame Sterben. Am Ende legen die Streicher eine warme, fast mütterliche Decke über das Geschehen, die sich unaufhaltsam wieder zusammenzieht – ein Kreislauf, der sich dreht, aber nie mehr ganz derselbe sein wird.

Saraste dirigierte das mit einer Rücksichtslosigkeit, die man selten erlebt: Von der ersten Sekunde an ging das Orchester volles Risiko, spielte mit einer Intensität und Präzision, die einem den Atem raubte. Ein Klangrausch – und schon nach dem Eröffnungsstück begeisternder Applaus.

© Alte Oper Frankfurt/Tibor-Florestan Pluto

Dann betrat Guido Sant’Anna die Bühne. Der 2005 in São Paulo geborene Brasilianer, Gewinner des Sibelius-Violinwettbewerbs 2022 und bereits Preisträger in Menuhin, Indianapolis und beim Paganini-Wettbewerb, ist gerade einmal zwanzig Jahre alt und doch schon eine Erscheinung. Schlank, ernst, fast asketisch steht er da, seine Vuillaume von 1874 in der Hand – eine Geige, die klingt, als hätte sie selbst schon Polarlichter gesehen: warm, voll, mit einem dunklen Kern, der sich in lauten Passagen stählern aufbäumt.

Sibelius’ Violinkonzert d-Moll op. 47 gilt als eines der anspruchsvollsten und zugleich rätselhaftesten Werke der Violinliteratur. 1903 in einer ersten, heute kaum noch gespielten Fassung uraufgeführt, überarbeitete Sibelius das Konzert grundlegend und schuf 1905 jene Version, die seitdem zur Messlatte für jeden Geiger geworden ist. Anders als die romantischen Schaustücke eines Tschaikowsky oder Brahms verzichtet Sibelius auf äußeren Glanz – stattdessen entwickelt er eine herbe, introvertierte Klangsprache, die den Solisten nicht über, sondern ins Orchester hineinwebt. Die Virtuosität ist brutal, die Emotionalität kompromisslos, und wer hier scheitert, scheitert öffentlich. Was dann folgte, war eine der intensivsten Darbietungen dieses Konzerts, die man in den letzten Jahren erleben durfte.

Der erste Satz begann auf den schwebenden Streicherakkorden wie aus dem Nichts. Sant’Anna intonierte die Melodie mit einer solchen Glut und inneren Spannung, dass man sofort spürte: Hier steht jemand, der diese Musik nicht nur spielt, sondern lebt. Seine Technik ist makellos – die Doppelgriffe sitzen wie eingemeißelt, die Flageoletts perlen glasklar, die Läufe sind von einer Leichtigkeit, die vergessen lässt, wie schwer das alles ist. Aber das eigentlich Erschütternde war die emotionale Wucht: Jeder Ton ein Bekenntnis, jede Phrase ein Gefühl, das unter die Haut ging.

© Alte Oper Frankfurt/Tibor-Florestan Pluto

Das Orchester unter Saraste begleitete nicht einfach – es atmete mit dem Solisten, mal zart wie Schnee, mal symphonisch auftrumpfend. Das Adagio wurde zur reinen Kontemplation: Sant’Anna sang mit einer Innigkeit, die unwirklich schien, während die Holzbläser des Helsinki Philharmonic Orchestras mit einer Wärme antworteten, die man aus nördlichen Ensembles so nicht unbedingt erwartet. Und das Finale? Ein rasender, ja dämonischer Tanz, bei dem Solist und Orchester einander bis an die Grenze trieben. Sant’Anna spielte mit einer Wildheit und Präzision, die an große alte Meister erinnerte, aber mit einer Jugendlichkeit, die frisch und ungeheuer lebendig wirkte. Als Zugabe dann noch der teuflisch schwere zweite Satz aus Ysaÿes fünfter Solosonate, die „Danse rustique“ – mit einem Augenzwinkern und einer Lässigkeit serviert, die den Saal endgültig zum Kochen brachte.

Nach der Pause stand Sibelius’ Sinfonie Nr. 1 e-Moll op. 39 auf dem Programm. Die 1899 uraufgeführte Erste ist das Werk eines Dreißigjährigen, der noch zwischen den Welten steht: Einerseits zeigt sich der Einfluss Tschaikowskys in der großen romantischen Geste, den leidenschaftlichen Streicherkantilenen und den dramatischen Klimaxen. Andererseits kündigt sich bereits jener eigenwillige, karge Sibelius-Ton an, der später in den mittleren Sinfonien zur Vollendung reifen wird – eine Musik, die nicht erzählt, sondern ist, die nicht illustriert, sondern Natur und Landschaft selbst zu sein scheint. Die Erste ist noch üppig instrumentiert, noch voller spätromantischer Emphase, doch schon beginnt sich hier der nordische Nebel zu lichten, der später zum Markenzeichen werden sollte.

Was Saraste und sein Orchester hier ablieferten, war schlichtweg eindrucksvoll. Man spürt sofort: Diese Musiker haben Sibelius in ihrer DNA. Die Streicher – eine große, satt klingende Gruppe – spielten mit einer Glut und technischen Perfektion, die man sonst höchstens bei den renommiertesten Ensembles hört. Die Holzbläser waren außergewöhnlich: Die Klarinette im zweiten Satz phrasierte mit einer elegischen Schönheit, die die Alte Oper tatsächlich rot glühen ließ. Die Blechbläser strahlten nordisch klar und doch nie hart. Und das Schlagwerk! Strahlende Beckenschläge, die wie Sonnenstrahlen durch den Schneenebel brachen, und eine Pauke, die ihr großes Solo im dritten Satz mit einer solchen Verve und Selbstsicherheit hämmerte, dass man meinte, das Podium müsse einstürzen.

© Alte Oper Frankfurt/Tibor-Florestan Pluto

Saraste selbst dirigierte mit der ihm eigenen Zurückhaltung – fast reglos, kaum sichtbare Bewegungen, dafür ein Klang, der wie ein Naturereignis wirkte. Wie ein Eisberg: Neun Zehntel unter der Oberfläche, aber von ungeheurer Wucht. Der Finale-Satz steigerte sich zu einem geradezu überirdischen Sonnenhymnus, der sich langsam, dann schmerzhaft in der Dunkelheit auflöste – ein Schluss, der einem die Sprache verschlug.

Das Publikum war tief beeindruckt. Saraste schenkte großzügig nach: Zuerst die seltene orchestrale Miniatur „Der Barde“ op. 64 – pure Mystik, schwebende Harfenklänge, geheimnisvolle Streicherflächen. Und dann, als krönenden Abschluss, „Finlandia“ in bester Umsetzung. Stehende Ovationen und glückliche Gesichter.

Das Helsinki Philharmonic unter Jukka-Pekka Saraste ist derzeit in einer Form, die kaum zu übertreffen ist. Sie spielen Sibelius nicht – sie sind Sibelius. Guido Sant’Anna ist ein besonderes Talent, das gerade erst beginnt, die Geigerwelt aufzumischen. Und wer gestern in der Alten Oper war, hat einen jener Abende erlebt, an die man sich noch länger erinnern wird. Ein Konzert, das unter die Haut ging – und dort hoffentlich lange nachglüht.

Dirk Schauß, 24. November 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Rising Stars 48: Guido Sant’Anna, Violine klassik-begeistert.de, 2. November 2023

Sommereggers Klassikwelt 105: Jean Sibelius‘ bewegtes Leben, klassik-begeistert.de

Saraste und Müller-Schott Musik- und Kongresshalle Lübeck, 24. März 2023

Gustav Mahler Jugendorchester, Dirigent Jukka-Pekka Saraste Felsenreitschule, Salzburg, 25. August 2022

 

 

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