Kent Nagano, geboren am 22. November 1951 in Berkeley im US-Bundesstaat Kalifornien, ist seit der Spielzeit 2015/2016 Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper und des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg. Gleichzeitig ist er Music Director des Orchestre symphonique de Montréal.
Der Weltklasse-Dirigent mit japanischen Wurzeln spricht im zweiten Teil des Interviews mit klassik-begeistert.de darüber, wie er sein Orchester an die Weltspitze heranführen will und wie er Stars in Hamburg formen möchte. „Wir müssen die größte Musik wie möglich machen“, sagt Nagano. „Hamburg hat es schon immer in wunderbarer Weise vermocht, die nächste talentierte Generation auf die Bühne zu bringen.“
Klassik-begeistert.de: Herr Nagano, Ihre zweite Spielzeit in Hamburg liegt jetzt fast zur Hälfte hinter Ihnen. Was waren Ihre bislang beglückendsten Momente in der Hamburgischen Staatsoper und in der Laeiszhalle?
Kent Nagano: Mein Orchester entwickelt sich so unglaublich schnell. Jedes Konzert, jedes künstlerische Rendez-vouz ist auf einem unerwarteten neuen Niveau. Es bringt mir so viel Energie und Hoffnung, zu erleben, wie schnell sich dieses Orchester entwickelt. Die beiden Konzerte am 20. und 21. November 2016 mit dem Ausnahmegeiger Gidon Kremer und dem zeitgenössischen Violinkonzert „In tempus praesens“ der russischen Komponistin Sofia Gubaidulina sowie der „Eroica“ von Ludwig van Beethoven waren eine ganz wunderbare Erfahrung in der ausverkauften Laeiszhalle.
Wie würden Sie die spezielle Klangfarbe ihres Hamburger Orchesters beschreiben?
Nagano: Die Farbe entwickelt sich gerade. Sie ist ziemlich dunkel und gleichzeitig hell. Ja, beides! Wenn Sie mich nach einer speziellen Farbe fragen, würde ich sagen: Dunkelblau oder Erdfarben. Es ist ein ganz dunkles Braun.
Und wie klang Ihr Münchener Orchester?
Nagano: Das hatte auch einen sehr dunklen Klang, etwas weicher als die Hamburger Philharmoniker, etwas goldener.
Wollen Sie diesen Münchner Klang auch in Hamburg implementieren?
Nagano: Nein! Hamburg soll wie Hamburg klingen. Wir haben in Hamburg einen sehr schönen, einzigartigen Klang. Und der entwickelt sich immer mehr von Konzert zu Konzert
Sie waren von 2006 bis 2013 Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper. Sie genießt in Deutschland und in Europa einen größeren Ruf als die Hamburgische Staatsoper. Wollen Sie die Oper in Hamburg auf das Niveau der Oper in München bringen?
Nagano: Das hängt vom Zusammenhang und von der Zeit ab. Als ich Student war in Amerika, habe ich viel über die Oper in Hamburg gelesen – das war in der Zeit des großen Intendanten Rolf Liebermann. Hamburg genoss ja damals in den 1960er und Anfang der 1970er Jahre einen phantastischen Ruf. In Deutschland gibt es große Traditionen. Und auch Hamburg hat eine große Tradition genau wie München. In Hamburg stand seit 1678 das erste öffentliche Opernhaus Deutschlands in Zeiten einer freien Hamburgischen Bürgerschaft.
Herr Nagano, Sie sind ja auch bekannt als ein sehr ehrgeiziger Dirigent. Wie wollen Sie Hamburg auf das Niveau von München bringen?
Nagano: Ich möchte in der Tat, dass Hamburg künstlerisch gesehen ein Star unter den internationalen Bühnen wird.
Aber Weltstars wie Anja Harteros und Jonas Kaufmann und viele andere machen immer noch einen Bogen um die Hamburgische Staatsoper und singen lieber in München, Berlin und Wien. Wie können Sie es erreichen, auch solche Ausnahmekünstler nach Hamburg zu holen? Ist das auch ein Ziel der Hamburgischen Staatsoper?
Nagano: Die werden kommen… (lacht). Wir haben da schon ein paar Pläne für die Zukunft in der Schublade – warten Sie nur ab! Nun waren Frau Harteros und Herr Kaufmann ja auch nicht immer schon Stars. Ich habe mit ihnen viele Jahre zusammengearbeitet, bevor sie Weltstars wurden. Ja, ich durfte ihren Weg zum Weltstar begleiten. Nur weil jemand ein Medienstar ist, ist er nicht plötzlich talentierter als vor diesem Durchbruch….
Sie wollen also neue Stars in Hamburg formen?
Nagano: Wir müssen die größte Musik wie möglich machen. Hamburg hat es schon immer in wunderbarer Weise vermocht, die nächste talentierte Generation auf die Bühne zu bringen. Das berühmteste Beispiel ist der Tenor Placido Domingo, der in Hamburg 1967 als Cavaradossi in Giacomo Puccinis Oper „Tosca“ seine Weltkarriere startete, genauso wie der ganz junge Tenor Luciano Pavarotti. Das ist wirklich eine ganz große Tradition hier in Hamburg – hoffentlich können wir sie künftig noch weiterentwickeln.
Die 30 Jahre Jahre alte Mezzosopranistin Nadezhda Karyazina, die im Silvesterkonzert der Hamburger Philharmoniker in der Laeiszhalle gesungen hat und zum Ensemble der Hamburgischen Staatsoper gehört, ist so ein Talent. Im Oktober 2016 hat sie im Haus an der Dammtorstraße eine umwerfende Maddalena in Giuseppe Verdis „Rigoletto“ gegeben…
Nagano: … ja, Nadezhda singt wirklich ganz wunderbar, genauso wie unsere 26 Jahre alte Sopranistin Christina Gansch aus St. Pölten in Niederösterreich, die sich auch ganz großartig entwickelt und auch Silvester in der Laeiszhalle auf der Bühne stand.
Sie haben eine große Leidenschaft für zeitgenössische Werke. Gerade lief die Neu-Komposition „Senza sangue“ des Ungarn Péter Eötvös gemeinsam mit der Oper „Herzog Blaubarts Burg“ von Béla Bartók in Hamburg – phantastische Musik, phantastische Darsteller, hervorragende Inszenierung. Eötvös höchst persönlich dirigierte an allen sechs Abenden. Aber viele Aufführungen waren nur zur Hälfte besetzt. Woran liegt das?
Nagano: Es ist unsere Verantwortung, die Qualität der Aufführungen immer weiter zu verbessern. „Senza sangue“ von Péter Eötvös ist ein außergewöhnlich starkes Werk, genauso wie seine Komposition „Tri Sestri“ – „Drei Schwestern“ von 1997. Diese beiden Werke haben schon so etwas wie eine Aufführungstradition. Um eine Öffentlichkeit und Vertrauen herzustellen, brauchen wir in Hamburg vor allem eines: Zeit. Von den Auslastungszahlen gehen wir langsam in die richtige Richtung, aber wir haben noch viel zu tun.
Werden solche zeitgenössischen Werke wie jene von Péter Eötvös in 50 bis 100 Jahren auch noch gespielt werden?
Nagano: Das hängt allein von der Qualität der Werke ab. Nun, die große Mehrzahl der zeitgenössischen Werke wird sicher in einem Jahrhundert nicht mehr gespielt werden. Das war schon immer so. Heute spielen wir natürlich Mozart. Aber was ist mit den anderen 10.000 Komponisten dieser Zeit? Glauben Sie mir: Außergewöhnliche Qualität setzt sich durch und ist unsterblich.
Wenn in Hamburg „Rigoletto“ von Giuseppe Verdi läuft, ist Ihr Haus an der Dammtorstraße ausverkauft…
Nagano: …das stimmt. Aber als wir zum Beispiel in München das Risiko eingingen, im Jahr 2012 die Uraufführung der Oper „Babylon“ von Jörg Widmann auf die Bühne zu bringen, waren wir jeden Abend total ausverkauft. Ja, man muss in der Kunst auch ein Risiko eingehen. Das gehört zur Kunst dazu. Das Publikum fühlt, wenn ein Werk großartig ist und kommt zu den Aufführungen.
Sie haben im November 2016 mit großem Erfolg „Lohengrin“ von Richard Wagner an der Hamburgischen Staatsoper dirigiert. Wie würden Sie einem Menschen, der noch nie Wagner gehört hat, die Magie dieser Lieblingsoper des bayerischen Königs Ludwig II. erklären?
Nagano: (lacht). „Lohengrin“ ist jetzt 176 Jahre alt und immer noch so besonders, weil dieses Meisterwerk ganz nah an der klassischen Tradition steht. Die Oper ist sehr symmetrisch komponiert, die Melodien sind sehr klar und sehr schön. Sie sind sehr zugänglich. Die Struktur dieser Oper basiert noch sehr auf Kompositionen Ende des 18. Und Anfang des 19. Jahrhunderts. Das Vorspiel fängt eigentlich nur mit Licht an, nicht mit Tönen. Lohengrin ist ein Werk ohne Grenzen zwischen Drama, Theater und Musik. Die verschmelzen förmlich in dieser Oper.
Ich habe manchmal das Gefühl, dass sie beim Dirigieren von Kompositionen aus dem 20. Jahrhundert und bei aktuellen zeitgenössischen Werken vollkommen in Ihrem Element sind…
Nagano: …meine Leidenschaft für Musik hängt nicht von einem Zeitraum ab. Sie ist mit Werken und Komponisten verknüpft. Meine größte Begeisterung entfachen Johann Sebastian Bach und Wolfgang Amadeus Mozart. Mein Repertoire basiert auf Bach, Mozart, Beethoven und Joseph Haydn. Die großen Kompositionen des 20. Jahrhunderts und des 21. Jahrhunderts basieren auf der Ästhetik Johann Sebastian Bachs, Mozarts und Beethovens.
Hören Sie sich regelmäßig die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach an?
Nagano: (lacht) Ich höre sie nicht nur regelmäßig, ich spiele sie auch am Klavier.
In der New Yorker Metropolitan Opera ist jeder zweite Platz leer. Die meisten Gäste in der Hamburgischen Staatsoper sind auch über 60 Jahre alt. Die Auslastung liegt dem Augenschein nach bei höchstens 80 Prozent. Wie bekommt man mehr junge Menschen in die Oper?
Nagano: Es ist etwas seltsam, junge Leute anders zu behandeln als reifere Menschen. Was junge Menschen so besonders macht ist ihre große Sensibilität für Qualität. Junge Menschen sind so offen! Sie haben noch nicht gelernt, ihre Aufnahmebereitschaft zu mindern. Und sie wollen weniger Kompromisse eingehen. Auch ich wollte als Teenager keine Kompromisse eingehen. Mensch, war ich idealistisch… Da sind wir wieder beim Thema: Qualität, Offenheit, keine Kompromisse! Es ist sehr gefährlich, die großartige Offenheit jüngerer Menschen zu unterschätzen. Wir hatten auch in Montréal vor meiner Zeit eine ähnliche Situation wie in Hamburg, was den Verkauf der Abonnentenkonzerte angeht. Jetzt sind wir bei den Abonnentenkonzerten in Hamburg wie in Montréal fast ausverkauft.
Am 11. Januar 2017 eröffnet die Elbphilharmonie in der HafenCity im Hamburger Hafen. Wird die Hamburgische Staatsoper unter dem mächtigen Dampfer Elbphilharmonie, dessen Konzerte bis zum Ende dieser Saison ausverkauft sind, jetzt Gäste verlieren?
Nagano: Im Gegenteil! Die Elbphilharmonie ist ein großes Zeichen für Hamburg: Diese wunderbare Stadt glaubt im 21. Jahrhundert an die Wichtigkeit von Kultur. Als Amerikaner höre ich oft, dass Kultur nur für eine kleine Minderheit da sei, nur für gebildete Menschen da sei. Das stimmt nicht. Hamburg hat rund 820 Millionen Euro für die Elbphilharmonie in die Hand genommen, weil die Kultur ein großer Teil dieser Stadt ist und weil man erkannt hat, dass Kultur ein wesentlicher gesellschaftlicher Faktor ist, der die urbane Lebensqualität einer Stadt wie Hamburg entscheidend prägt und profiliert.
Die unglaublich teure Elbphilharmonie bietet also auch der Hamburgischen Staatsoper eine „win-win-situation“?
Nagano: Ganz genau. Hamburg positioniert sich neu als Kulturstadt in Europa. Keine Frage: Wir in der Hamburgischen Staatsoper müssen reagieren – we have to be ready!
Der künftige Chef der Wiener Staatsoper, Bogdan Roscic sagt im immer noch klassik-begeisterten Wien: Die Oper habe an Bedeutung verloren. Sie sei nicht mehr ein selbstverständlicher Bestandteil unserer Sozialisation, einer jener Orte, von dem man sich zentrale Erlebnisse erwarte. Das Publikum wachse nicht mehr einfach nach. Schlechte Aussichten für die Oper im weniger musikbegeisterten Hamburg …
Nagano: … (lacht) Roscic ist nicht allein mit seiner Meinung. Viele Leute teilen seine Meinung. Aber es ist immer wieder wichtig daran zu erinnern: Das ist nicht Mozarts Schuld. Das ist nicht Wagners Schuld und auch nicht die von Giuseppe Verdi. Das ist nicht die Schuld unseres großartigen Repertoires…
Aber wächst nicht gerade in Zeiten des Internets, der Smart Phones, der Computer- und Handyspiele eine Generation heran, die wirklich alles will, nur nicht drei oder gar vier bis fünf Stunden in einer Oper zu verbringen? Wie bekommen wir diese jungen Menschen, für die eine Tageszeitung größtenteils ein Relikt aus vergangenen Tagen ist, in zehn bis 20 Jahren in die Oper und in den Konzertsaal?
Nagano: Wir müssen aufpassen und dürfen die Dinge nicht verallgemeinern. In China sind die Konzert- und Opernhäuser voll mit jungen Leuten. Ich war gerade im russischen St. Petersburg und habe sehr viele junge Menschen in den Konzerten gesehen. Viele hatten sogar Partituren während der Aufführung dabei. Auch bei meinen Konzerten in Montréal mit dem Orchestre symphonique de Montréal können wir eines der jüngsten Publika in Nordamerika verzeichnen. Dafür haben wir hart gearbeitet, denn wir wollten die Türen auch für ein jüngeres Publikum öffnen. Unsere Philosophie auch beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin in meiner Zeit von 2000 bis 2006 und beim Bayerischen Staatsorchester in meiner Zeit von 2006 bis 2013 lautete: Wir müssen die höchstmögliche Qualität anbieten, um jüngeres Publikum zu gewinnen. Ja, wirklich: Viel mehr Qualität als normalerweise üblich! Nur dann schenken die jungen Menschen den Produktionen Achtung. Wie ich sagte: Junge Menschen sind sehr sensibel, was die Qualität betrifft.
Da bleibt ja noch viel zu tun in Hamburg …
Nagano: … wir dürfen nicht dem Status quo vertrauen und ihn fortwährend wiederholen. Wer das macht, hat bei der nächsten Generation verloren und versteht sie einfach nicht. Ich wollte ja auch nicht tun, was meine Eltern getan haben. Ich wollte etwas Neues anfangen.
Da gehen sie ja ganz mit dem künftigen Wiener Opernchef d’accord. Bogdan Roscic will die „Staatsoper 4.0“ zu kreieren. Das Publikum von morgen brauche Antworten auf Fragen wie: „Was ist die Oper für mich?“ Oper brauche Erlebnisse mit mehr Tiefe und Intensität – jenseits der Opernroutine…
Nagano: Wenn wir uns auf den herkömmlichen Wegen ausruhen und den Status Quo einfach nur reproduzieren, hat das für junge Menschen keine Bedeutung. Wir brauchen alles andere als Oberflächlichkeit. Wir brauchen in der Tat Herausforderung und inhaltliche Tiefe, sonst ist Oper für junge Menschen nicht interessant.
Der Start in die neue Saison mit der „Zauberflöte“ von Mozart im September 2016 war nicht gerade berauschend. Die Sänger waren größtenteils mittelmäßig. Der Großteil des Orchesters war mit Ihnen auf Tour in Südamerika, und die grelle Lichter-Show der Regisseurin Jette Steckel hat sehr viele Zuschauer verprellt, auch die jüngeren.
Nagano: Mit ihrer Meinung sind Sie nicht allein. Aber alle vier Aufführungen in der Vorweihnachtszeit waren ausverkauft.
Was haben Sie heute Morgen gehört?
Nagano: Die Es-Dur-Sinfonie von Mozart.
Herr Nagano, klassik-begeistert.de bedankt sich ganz herzlich für das Gespräch und wünscht Ihnen und Ihrer Familie alles Liebe und Gute! Und toi, toi, toi für Ihr erstes Konzert mit dem Philharmonischen Staatsorchester am 13. Januar 2017 in der ausverkauften Elbphilharmonie!
klassik-begeistert.de, 1. Januar 2017
Andreas Schmidt