Marie Jacquot © Werner Kmetitsch
Marie Jacquot (*1990 in Paris) hat sich durch zahlreiche erstklassige Debüts bei hochkarätigen Orchestern, ihre konsequente musikalische Arbeit und ihre Entdeckungsfreude im gesamten Repertoire in die vorderste Reihe spannender junger Dirigentinnen und Dirigenten gespielt. Seit der Spielzeit 2023/24 ist die Französin Erste Gastdirigentin der Wiener Symphoniker, mit denen sie in Konzerten im Wiener Konzerthaus, im Wiener Musikverein, bei den Bregenzer Festspielen und auf Tournee zu hören ist. Mit der Spielzeit 2024/25 übernahm sie außerdem die Aufgabe der Chefdirigentin des Royal Danish Theatre Copenhagen. Ab 2026/27 wird sie Chefdirigentin des WDR Sinfonieorchesters.
Jolanta Łada-Zielke im Gespräch mit der Dirigentin Marie Jacquot – Teil 1
klassik-begeistert: Liebe Frau Jacquot, hilft Ihnen Ihre sportliche Erfahrung beim Dirigieren?
Marie Jacquot: Ja und Nein. Eigentlich muss ich nicht viel darüber nachdenken. Meine sportliche Erfahrung hat in mir die Fähigkeit entwickelt, schnell zu reagieren und auf eine bestimmte Sache fokussiert zu bleiben. Beim Tennis spielt man immer gegen jemanden. Ein Orchester und ein Dirigent konkurrieren nicht miteinander. Ihr gemeinsames Musizieren ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Bei den Opernaufführungen hat man ebenfalls mit Aktion und Reaktion zu tun. Dazu kommt noch ein mentales Training, weil ich vor allem immer bei mir bleiben muss, auch wenn ich vor einem Orchester stehe. Ich hatte das große Glück, all dies schon in jungen Jahren lernen zu dürfen.
klassik-begeistert: Ihre Biographie ist voll von erfolgreichen Debüts mit weltberühmten Orchestern. Erinnern Sie sich an Ihr allererstes Mal, als Sie vor einem Orchester gestanden sind?
Marie Jacquot: Damals war ich vierzehn Jahre alt. Der Leiter meines Schulorchesters hatte gerade eine Dirigierklasse gegründet, und ich habe angefangen dort zu lernen. Die Orchesterleitung gehörte zum Programm.
Ich habe also das Schulorchester in einem Konzert mit dem Zweiten Ungarischen Tanz von Johannes Brahms dirigiert. Dieses Stück ist nicht einfach, aber interessant, vor allem wegen der Tempowechsel. Man musste dabei hochkonzentriert sein. Mein Vater saß im Publikum und hat ein Video gedreht, das ich immer noch habe. Das Dirigat hat mich schon immer fasziniert.
Ich liebe nicht nur klassische Musik selbst, sondern auch den körperlichen Aspekt des Dirigierens wie die Gestik und die Art der Bewegung – wahrscheinlich deshalb, weil ich in meiner Zeit als Tennisspielerin viel mit meinem Körper beschäftigt war.
klassik-begeistert: Wann haben Sie beschlossen den Tennisschläger gegen den Taktstock zu tauschen?
Marie Jacquot: Das war tatsächlich ein Prozess. Je höher, je weiter man im Sport kommt, desto mehr Zwang ist zu spüren. Die Menschen erwarten, dass ein Sportler immer bessere Leistungen erbringt. Dieser Druck und der Wettbewerb waren mir zunehmend zu schwierig und zu anstrengend.
Parallel dazu habe ich Posaune im Orchester gespielt und ein bisschen dirigiert. Und dieses Bedürfnis, gemeinsam zu spielen, miteinander zu musizieren, ist in mir zunehmend gewachsen. Als 15-Jährige ist mir klar geworden, dass ich keine Profitennisspielerin sein möchte. Schließlich habe ich das Tennis beiseitegeschoben und mich dem Musizieren gewidmet. Zunächst wollte ich Posaunistin werden.
klassik-begeistert: Was oder wer hat Sie fürs Dirigat überzeugt?
Marie Jacquot: Es war mein Mentor, mein Lehrer Roberto Gatto in Lucé bei Chartres, wo ich aufgewachsen bin. Er hat gesagt: „Du bist nicht unbegabt, vielleicht solltest Du Dir überlegen, ob Du Dirigentin werden möchtest“. Und er empfahl mir die Aufnahmeprüfung für die Dirigentenschule in Wien zu absolvieren. Dank all dem bin ich heute da, wo ich bin, und tue, was ich tue.

klassik-begeistert: Manche Musiker empfinden auch Druck, wenn das Publikum von ihnen eine perfekte Darbietung oder eine bestimmte Interpretation von Werken erwartet, an die die Menschen gewöhnt sind.
Marie Jacquot: Aus meiner Erfahrung im Sport würde ich sagen, dass man sich meistens diesen Druck selbst auferlegt. Er ist mit dem Verantwortungsgefühl verbunden, denn der Musiker möchte sein Publikum nicht enttäuschen. So etwas wirkt manchmal stärker als die Freude an der Musik. Ich kann sagen, ich gebe mein Bestes, was ich geben kann, will mich aber nicht überanstrengen. Mein Auftritt wird dem Publikum gefallen oder nicht. Wir sind Menschen, keine Maschinen, und wir können nicht immer hundert Prozent von uns geben. Ich glaube, wenn man seine Schwäche akzeptiert, kann man mit den Erwartungen des Publikums besser umgehen.
klassik-begeistert: Ist es einfacher klassische Werke zu dirigieren, die bereits eine Aufführungstradition haben, oder die modernen, bei denen es mehr Freiheit in der Interpretation gibt?
Marie Jacquot: Natürlich haben sowohl das Publikum als auch die Musiker im Orchester eine Vorstellung davon, wie klassische Werke klingen sollten.
Es gibt so viele Interpretationsmöglichkeiten von Beethoven-, Bruckner- und Mahler-Symphonien wie Menschen auf der Erde. Man soll jedoch keine Angst davor haben, seine eigenen vorzuschlagen.
Im Endeffekt, wenn wir alle versuchen zu machen, was in den Noten steht, klingt das Stück sowieso nicht immer gleich. Selbst ein forte kann man unterschiedlich führen, entweder aggressiver oder weicher, mit mehr Tiefgang.
Ich interpretiere die Werke auf meine eigene Art und Weise, weil ich Marie Jacquot bin, niemand anders.
Ich habe jedoch großen Respekt vor den Musikerinnen und Musikern des Orchesters, die ein bestimmtes Werk schon x-mal aufgeführt haben. Deswegen investiere ich viel Zeit dafür, eine Beethoven-, Bruckner- oder Mahler-Symphonie zu lernen. Wenn ich vor dem Orchester stehe, muss ich das Stück mindestens so gut wie alle Musiker kennen. Dies fällt mir schwerer, als wenn es eine Uraufführung eines bisher unbekannten Werks gäbe. Sie erfordert von mir auch eine längere Vorbereitung als bei Musikern, die einfach vom Blatt spielen. Das Publikum kennt das Stück nicht, hat nicht so hohe Ansprüche. In diesem Fall ist meine Aufgabe anders, nämlich das Stück zunächst dem Orchester und dann dem Publikum zugänglich und verständlich zu machen.

klassik-begeistert: Ist Musik das Wichtigste in Ihrem Leben?
Marie Jacquot: Ich habe dazu eine etwas andere Einstellung. Die absolute Priorität haben für mich die Menschen, erst dann kommt die Musik, weil man mit Menschen und für Menschen Musik macht. Wenn die Menschen, mit denen ich arbeite, bereit sind, für die Musik alles aufzugeben, umso besser. Ich unterstütze die Musiker und Musikerinnen dabei, das Beste aus sich herauszuholen. Wenn jemand eine Idee von mir nicht umsetzen will, weil er sie nicht versteht, oder wenn man private Probleme hat, bin ich immer zu einem Gespräch bereit.
klassik-begeistert: Vielen herzlichen Dank für das Gespräch!
Jolanta Łada-Zielke, 23. Januar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Den zweiten Teil des Interviews mit Marie Jacquot lesen Sie am Samstag, 25. Januar 2025, hier auf klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at .
Interview: klassik-begeistert im Gespräch mit Giampaolo Bisanti, Teil 3 6. Oktober 2024