Laeiszhalle © Thies Raetzke
Laeiszhalle, Hamburg, 6. Oktober 2023
KlassikPhilharmonie Hamburg
Hamburg Proms – Last Night
Darlene Ann Dobisch Sopran
Theodore Kerkezos Saxofon
Dirigent Russell Harris
von Harald Nicolas Stazol
„Rule Britannia“ wollte ich schon immer mal mitsingen, während Tröten erklingen und Luftballone in den Konzertsaal schweben, „das sollte man viel öfter tun“, sagt Gregory, mein treuer Konzertbegleiter, der heute Abend leider verhindert ist, fernmündlich – noch vorher hat uns, dem ausverkauften Saal, der Dirigent mit der Union-Jack Weste, launig und als Entertainer würdig der Royal Albert Hall, gerade eingebläut, Russell Harris, „how to sing it, and behave!“, denn es muss heißen „Rule Bri-TTAN-ia, und „Sie müssen aufstehen, wie ein Mann!“, was mir bei der vorzüglichen Güte des Platzes, Rang-Balkon 2, erste Reihe, ganz in der Mitte, der Royal Box gewissermaßen, etwas schwerfällt, vor der prachtvoll herabhängenden Fahne Großbritanniens, – ich leide unter Höhenangst. Sonst offenbar niemand.
Überhaupt, die Flaggen! Großzügig wurden kleine Fähnchen verteilt, und ganz im Sinne des einigen Europas nehmen sich die Besucher im ausverkauften Saal die ihres Landes, und so sieht man einmal, wie international ein Publikum sein kann, das gerade so sehr mit Tröten pfeift, außer Rand und Band, so englisch, als hätte es den Brexit nie gegeben.
Fast hätte es diesen, das ganze Konzert, für mich nicht gegeben, stehe ich doch, Kritikerzerstreutheit sei Dank, vor dem Ticketkontor der Elbphilharmonie, und stelle um 19.00 Uhr meinen Irrtum fest, „Ich habe heute gar nichts für Dich“, sagt eben noch meine tätowierte Perle an der Abendkasse, da wird mir gesagt, „die Proms sind in der Laeiszhalle, das schaffen Sie?“ – also im preußischen Stechschritt in die U3 bis Rathausmarkt, wegen Bauarbeiten keine Haltestelle in Sicht, so dass ich in aller Eile die Strecke bis zur Laeiszhalle in 25 Minuten (!!!) schaffe, allerdings dann, man sucht fügigst-füglichst das Ticket, auf vorerst einem Hörplatz oben lande, unsichtbar und fast geheim, sodass ich also so schnell atme und schwitze, wie Boris Johnson nach seinem Partygate, und mich total heißgelaufen fast vollständig entkleide (was tut man nicht alles für klassik-begeistert.de), nein, also Mantel und Sakko ablege, und nun passenderweise Glinka höre, „Ruslan und Ludmilla“, die rasante Ouverture, die dem 1978 gegründeten Orchester der „Klassikphilharmonie“, schon im Vorfeld alles abverlangt, rasant und fehlerlos, so sehr, dass, auch während ein kleines Mädchen mit lautem Knall und Schall immer wieder ihren Klappsitz hochballern lässt – nun alles ganz egal, ist sie doch gerade die Klassikhörerin im jüngsten Alter, nachdem sich Bayreuth, Wien und wohl auch die Royal Albert Hall so sehnlich sehnen, Geknalle oder nicht.
Da folgen schon Gershwin und Bernstein, und da ist sie, die Koloratursopranistin Darlene Ann Dobisch, die mit vollkommener Theatralik ganz in seiden-roter Robe in Candide, in seltener Einheit mit Dirigat und Orchester wundervollst vorträgt, und man ist allenthalben, hier oben im 2. Rang, bis zum Parkett, hingerissen!
Hingerissen auch schon vorher bei Piazzolla: Der Saxophonist Theodore Kerkezos brilliert nun in der Tat noch vor der Pause, „er ist Grieche, deswegen muss ich ihn abholen“ sagt Russell, und der ganze Saal lacht befreit, „haben Sie den noch gehört?“, fragt meine begeisterte Sitznachbarin, da ich den Luxusplatz ja zu spät einnehmen kann und darf, und yeah! Das habe ich! Und in den Tangoklängen sind wir alle schon am Mittanzen, soweit der Platz es eben erlaubt.
Denn ich habe ob meiner Elbphiphilität dieses traditionelle, wunderbare, klassizistische Haus mit dem prächtigen Vestibül sträflich(st) vernachlässigt, so sehr die Elphi über allem strahlt, doch nun in der Pause, an den prächtigen Treppenläufen und dem Foyer oben und dem Goldstuck und den Komponistenbüsten und dem sich heute oft bunt kostümierten Publikum, hier Flagge, dort Hütchen und Brosche und Glitter und Glitzer in Nationalfarben, und adrett im Sakko strahlenden Jungs und Kleidchen tragenden Mädels, nun, das Ganze habe ich lange unterschätzt. Gerade hat sich eine europäische Festlichkeit eingestellt – fuck Brexit!
Alles vom Feinsten, und nun liegen die Texte aus, von Rule Britannia, Land of Hope and Glory, Jerusalem, von Elgar bis Parry – da geraten wir alle außer Rand und Band, und es lässt vermuten, dass sich die Lust am Brechen der leis-leisen Disziplin bei ja allen Konzerten nun eben Bahn bricht, ach, allein die Stimmung, man wünschte, dieses kollektive Amusement zum Schluss ließe sich in diesen Zeilen überhaupt übertragen, da fliegen und knallen schon die Luftballone, und die Koloraturen der hinreißenden Dobisch unter-, nein, übermalen alles, es ist die reine Freude, und der reine Spaß!!! Das Sylvesterkonzert des Ausnahme-Ensembles habe ich, da ich dies schreibe, schon reserviert.
Noch Highlights? Darius Milhaud vielleicht, und Jules Massenet. Mit schön gewählten Auszügen aus seiner Oper „Le Cid“.
Seltsam die Ergriffenheit bei „God save the King“, unerklärlich die Gänsehaut bei UNSERER Hymne, „Einigkeit und Recht und Freiheit“, trägt doch die Sopranistin schon eine Fahne aus Union Jack und Schwarz-Rot-Gold zusammengenäht um die dramatischen Schultern.
Da hat ein Konzert das Gefühl von Europa geschaffen – wenn das keine Leistung ist?
Dass Hamburg ein Vorort von London ist und bleiben wird, ja, das bessere Londinium, war mir schon lange klar. Dieser Freitag Abend aber stellt es ohne jeden und jeglichen Zweifel unter Beweis:
„Britons never, never, never, will be slaves!“
Harald Nicolas Stazol, 6. Oktober 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
PROGRAMM
Michail Glinka
Ouvertüre zu »Ruslan und Ljudmila«
Jules Massenet
Auszüge aus der Oper »Le Cid«
Astor Piazzolla
Tango Suite
– Pause –
George Gershwin
Ouvertüre zu »Girl Crazy«
Leonard Bernstein
Glitter and Be Gay / Candide
George Gershwin
Jazz Prelude
Darius Milhaud
Brazileira. Mouvement de Samba / aus: Scaramouche op. 165b
Thomas Arne
Rule Britannia!
Hubert Parry
Jerusalem
Edward Elgar
Land of Hope and Glory / aus: Pomp and Circumstance Marches op. 39