Ein glücklicher Alexandr Trusch und ein strahlender John Neumeier nach einer überaus erfolgreichen Aufführung des Balletts Beethoven II im Jahre 2022 (Foto: RW)
Kommentar zur aktuellen Situation beim Hamburg Ballett
Warum soll die immense Schatzkiste, die John Neumeier in Hamburg mit kostbarsten Juwelen gefüllt hat, in der Elbe versenkt werden? Um sich anschließend mit Kunstkristallen zu schmücken?
von Dr. Ralf Wegner
Es ist aus Zuschauersicht geradezu furchtbar, Demis Volpi hat die Hamburger Ballett-Truppe gegen sich aufgebracht. Wie man hört und lesen kann, haben sich mehr als die Hälfte der Hamburger Tänzerinnen und Tänzer einer Art Petition an den Kultursenator Brosda angeschlossen: Der Erste Solist Alexandr Trusch, einer der weltbesten Tänzer, hat sich schriftlich an diesen gewandt, um das unter dem neuen Kapitän auf einen Eisberg zusteuernde Schiff des Hamburg Balletts noch aus der Gefahrenzone zu manövrieren.
Nun ist der Kultursenator gefordert, oder wir erleben ein Schrecken ohne Ende. Leider habe ich den Verdacht, dass von Seiten der Kulturbürokratie und anderer Kulturschaffender die hohe erforderliche, qualitativ notwendigerweise elitäre Kunst auf der Hamburger Ballettbühne schon lange mit Argwohn beobachtet wird, teils in Hamburg, aber auch bundesweit. Mir scheint es, als wünsche man sich ein weniger elitäres, tanztechnisch weniger anspruchsvolles, sich deutlicher dem Gesellschaftspolitischen öffnendes Tanztheater auf der Bühne. Neumeiers individualistische, uns Zuschauer tief berührende Sicht auf menschlichen Beziehungen, auf die Liebe im Allgemeinen und im Besonderen, ist ihnen ein Dorn im Auge.
Das äußerte sich öffentlich schon mit der Expatriierung von John Neumeier aus dem Ballettzentrum. Ihm, der dieses Haus in Jahrzehnten zu höchster Blüte brachte, wurde kein eigenes Residenzzimmer mehr in der nach ihm benannten Schule zugebilligt. Und das seit Jahren geplante Museum für John Neumeiers Ballett-Sammlung ist immer noch nicht fertig, und man hört auch nichts darüber. Und die Anzahl der je Saison aufgeführten Neumeier-Ballette reduziert sich unter der Leitung von Demis Volpi von Saison zu Saison.
Wenn gesagt wird, man müsse neue Wege gehen, neue choreographische Stile auf die Bühne bringen, frage ich mich, warum eigentlich? Wenn das Hamburger Ballett mit John Neumeiers Werken ein Alleinstellungsmerkmal in der Ballettwelt hat und an der Weltspitze mittanzt? Warum soll die immense Schatzkiste, die John Neumeier in Hamburg mit kostbarsten Juwelen gefüllt hat, in der Elbe versenkt werden? Um sich anschließend mit Kunstkristallen zu schmücken?
John Neumeier hat dem Hamburger Ballett Weltgeltung verschafft. Dieser Ruf basiert auf seinen tiefenspannenden, die menschlichen Seelenlandschaften auslotenden Balletten. Und deren Durchführung bedarf bestimmter technisch-tänzerischer und darstellerischer Fähigkeiten, die nicht von heute auf morgen zu erwerben und die auch nicht einzukaufen sind.
Und wenn diese technisch-tänzerischen und darstellerischen Fähigkeiten nicht mehr abgefordert werden, wie sich aus Alexandr Truschs Schreiben an den Kultursenator ergibt, erlischt die Leuchtkraft des Hamburger Ballettensembles. Wenn das so sein sollte, wünschte ich mir lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Schafft dann das Ballett ab. Wir haben unter John Neumeier fünf Jahrzehnte unendliches Glück auf der Bühne erlebt. Ein Abfall ins Mittelmaß wäre nicht zu ertragen.
Dr. Ralf Wegner, 6. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Endstation Sehnsucht, Ballett von John Neumeier Hamburgische Staatsoper, 2. Mai 2025
Ballett John Neumeier, Matthäus-Passion Hamburgische Staatsoper, 17. April 2025
Odyssee, Ballett von John Neumeier Hamburgische Staatsoper, 11. April 2025
Ich danke Ihnen für Ihre Worte, Sie sprechen mir aus meiner Tänzerseele und meinen Tänzerherz! Der Abschied Johns war schon schwer, aber das jetzt ist furchtbar zu sehen! Es gibt auch kein Einsehen seitens des neuen Choreografen und der Schaden ist bereits angerichtet! Unfassbar traurig in einer Welt, wo soviele Träume und Visionen auf der Strecke bleiben!
Noah
Lieber Herr Wegner,
danke dafür, dass Sie dieses Thema aufgreifen.
Ich habe nie verstanden, warum bei einer künstlerischen Ausnahmeerscheinung wie John Neumeier niemand auf die Idee kam, ihn als Intendanten und Ballettdirektor auf Lebenszeit zu ernennen und ihn verpflichtungsfrei zu stellen, so dass er, wann immer er will, kreativ tätig werden kann. Ein oder zwei Ballettmeister oder Ballettmeisterinnen seiner Wahl an seiner Seite könnten die Basisarbeit übernehmen und mehr und mehr von seiner Intendantentätigkeit übernehmen. So wächst eine homogene Transformation anstatt eines abrupten Umbruches zusammen und in die Nachfolge hinein – aus dem eigenen Fundus. Ist das Beamtenrecht hier etwa wichtig oder wichtiger als die Kunst? Wurden seine eigenen ehemaligen Tänzersolisten nie gefragt? Es ist bitter, dieses alles untergehen zu sehen, auch wenn es sich in Zeitlupe manifestiert.
Dr. Holger Voigt
Lieber Herr Voigt,
Sie haben völlig recht, das zeigt sich auch am Kommentar von Noah Herzog. Mittlerweile hat ja das Schreiben von Alexandr Trusch bundesweit in der Presse und den maßgeblichen Internetveröffentlichungen breitest Widerhall gefunden, und nicht zu Gunsten von Demis Volpi. Es hatte mich von Anbeginn schon irritiert, dass der sehr Neumeier-versierte Erste Ballettmeister Kevin Haigen, für den Neumeier den Joseph in der Josephslegende und den Puck im Sommernachtstraum kreiert hatte, durch Damiano Pettenella ersetzt wurde. Pettenella hatte, wie sich aus seiner Biographie schließen lässt, offenbar nie Neumeier-Hauptrollen getanzt. Und er scheint wohl auch nicht in der Lage zu sein, wenn man den Brief von Alexander Trusch zwischen den Zeilen liest, den Hamburger Tänzerinnen und Tänzern das zu vermitteln, was sie bei Demis Volpi vermissen.
Wir sahen Volpis Handlungsballett Salome 2016 in Stuttgart. Meine Erinnerung ist nicht negativ, man konnte sich für die Choreographie erwärmen, auch Dank des herausragenden Stuttgarter Ensembles. Die sonst übliche Begeisterung des Publikums blieb allerdings aus, der Beifall war freundlich, aber nicht überschwänglich. Meine Dortmunder Kritik zu Volpis Giselle (Düsseldorf, 2023) fasste ich damals wie folgt zusammen: Es gelingt Volpi nicht, die Liebesbeziehung zweier Frauen tiefenspannend und mit im Herzen bewegender Empathie zu zeigen (Giselle und Bathilde). Vielmehr scheint seine Triebfeder der modische Hang zum Nonbinären zu sein (Männer mit Tutu im Wili-Akt). Volpis Krabat (Duisburg, 2024) zeigte ein beeindruckendes Bühnenbild und effektvolle Kostüme, choreographisch blieben aber Fragen offen. Es gab kaum eine tiefere Entwicklung bei den Protagonisten, außerdem litt das Stück an einem Übermaß an Bewegungsakrobatik bzw. Bewegungstheater. Ab und an wurde von den Tänzern auch gedreht und gesprungen, aber ohne dass dieses einem Handlungsfaden zuzuordnen, also choreographisch einleuchtend war. Und die in Hamburg aufgeführten und in die nächste Saison wieder übernommenen Mehrteiler ließen den technisch-tänzerischen und darstellerisch herausragenden Neumeier-erprobten Tänzerinnen und Tänzer kaum die Möglichkeit, ihre künstlerische Potenz auf der Bühne zu zeigen.
Ich vermute, Kultursenator Dr. Brosda wird Demis Volpi weiter unterstützen, auch trotz der dramatischen Vorgänge bei den Tänzerinnen und Tänzern des Hamburg Balletts. Carsten Brosda war auch bei Volpis Premieren zu sehen, woran ich mich bei Neumeier-Aufführungen nicht erinnern kann. Und vor allem, bei dem wichtigen Senatsempfang für John Neumeier im Hamburger Rathaus am 10.06.2023 war der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher anwesend, nicht jedoch der zuständige Kultursenator Carsten Brosda.
Insoweit, lieber Herr Voigt, ist es, wie Sie schreiben, bitter, dieses alles untergehen zu sehen, auch wenn es sich in Zeitlupe manifestiert.
Dr. Ralf Wegner
Danke für die Kommentare, denen ich voll zustimme. Was sich schon länger bei Opernaufführungen zeigt (teilweise nur halb besetztes Haus, zu Rolf Liebermanns Zeiten: Hamburg = Oper !, heute eher Musicalstadt), wird sich dann leider beim Ballett fortsetzen.
Hartmut Funke
Vielen Dank für den Artikel und die Kommentare.
Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Weder in den Befürchtungen, noch der tiefen Trauer um diese einmaligen Tänzerpersönlichkeiten… Es ist schrecklich! Und unbegreiflich. Es ist eine Qual, in die geliebte Staatsoper zu gehen. Daher werde ich erstmals seit 20 Jahren die kommende Saison pausieren. Ich kann da nicht länger zusehen.
Mc. F.