Foto: (c) HS Musik und Theater, München
Was mich an diesem Abend beglückt: ich sehe viel Talent, darunter neun barockgestählte historisch informierte angehende Chorleiter und Chorleiterinnen. Welch toller Ausblick auf die Zukunft für mich als Barockfan.
Hochschule für Musik und Theater, München, 19. Mai 2022
Passions Pasticcio »Wer ist der, so von Edom kömmt«
von Frank Heublein
An diesem Abend bin ich in der Hochschule für Musik und Theater München im großen Konzertsaal in der Arcisstraße. Ein Raum, der mich akustisch anspricht. Das aufgeführte Passions Pasticcio „Wer ist der, so von Edom kömmt“ entstammt dem Nachlass von Carl Philipp Emanuel Bach. Vermutlich hat es sein Vater Johann Sebastian zusammengestellt. Ich lerne an diesem Abend, was ein Pasticcio ist: eine Zusammenstellung von Werken verschiedener Komponisten zu einem größeren zusammenhängenden Werk.
Das Grundgerüst bildet die Passionskantate „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ von Johann Sebastian Bachs Zeitgenossen Carl Heinrich Graun (1704/05-1759). Johann Sebastian Bach steuert ein Chorstück bei, Georg Philipp Telemann eröffnet die Passion mit einem Chorstück mit Bass-Solo. Sechs Nummern, für die musikhistorisch keine sichere Zuordnung zu wahrscheinlich zwei unterschiedlichen Komponisten gefunden wurde, bilden Bestandteile, darunter den Abschlusschoral.
Nicht alltäglich ist die Vielzahl der Urheber, die Kompositionen einer Zeitspanne von etwa einem Jahrhundert repräsentieren. Der Text stammt nicht aus einem Evangelium, sondern den Schriften Jesajas und verschiedenen Kirchenliedern von Johann Heermann und Paul Gerhardt. Es gibt keine Evangelisten, keine direkte Rede der Beteiligten.
Das Versprechen der Vielfalt wird mir erfüllt. Und doch ist durch Grauns Hauptkorpus eine Klammer gegeben, die mich den Abend musikalisch rund empfinden lässt. Einerseits höre ich kompositorische Unterschiede, anderseits: es sind eher erstaunlich kleine Details und die musikalische Nähe zwischen Graun und Bach beeindruckt mich.
Erstauntes Vergnügen sind mir die neun Dirigenten und Dirigentinnen. Denn ein Bruch, Veränderung ist nicht zu spüren, obgleich ich in den Dirigaten durchaus Unterschiede erspähe. Alle neun sind wenn sie nicht dirigieren, Chormitglieder. Zur historisch informierten Aufführungspraxis gehört für mich auch die Kleinheit der Besetzung. Im Barock waren üppige Personenzahlen eher selten. Der vierstimmige Chor besteht aus jeweils vier Sängern und Sängerinnen und immer fehlt da jemand. Dabei sind die Chorstücke und Choräle stark und kraftvoll. Großartig.
Wie im Chor ist auch im Orchester die Stimmenanzahl überschaubar. Zwei Flöten, im ersten Teil zwei, dann im zweiten drei Oboen, ein bis zwei Fagotte, zwei Violinen und eine Bratsche. Die erste und die zweite Geige tauschen in den beiden Teilen. Im zweiten Teil gefällt mir die Abstimmung der Violinen besser als im ersten. Die Holzbläser sorgen wann immer gefordert in mir für eine warme empfindsame Klangfarbigkeit.
Im Continuo sehe ich an diesem Abend Cembalo, Orgel, ein Violoncello und eine Violone. Letztere ist eine Gambenart, die man auf den ersten Blick mit dem sich daraus entwickelten Kontrabass verwechseln könnte. An diesem Abend verstehe ich Herausforderung des Continuo, denn genau! die Instrumente spielen praktisch durchgehend. Respekteinflößend. Die Mitglieder des Continuo erzeugen eine exzellente stabile Grundlage des Klangs und sichern die Tempi. Für mich ein wichtiger Aspekt des Runden, das ich an diesem Abend empfinde.
Von den Solisten überzeugt mich Sopran Isabella Gantner. Ich sehe ihr anfangs die hochkonzentrierte Spannung an. Nach den ersten gesungenen Zeilen ist ihr die Freude im Singen anzumerken, sie lächelt. Fest, kraftvoll, klar, bestimmt und souverän und zugleich mit konzentrierter Leichtigkeit! Letztere lässt sie überspringen auf mich. Alt Julia Lautenbacher will ich den Frosch abnehmen, der sich von Anfang bis Ende in ihren Hals verirrt hat und ihre warme anmutige Stimme stark einbremst. Sie ist eine mutige Künstlerin, denn sie zieht den Abend durch. Diese Stimme mag ich – ganz ohne Frosch – gerne wieder hören. Tenor Moritz Külbs ist in den unteren Lagen exzellent, in den oberen wirkt er auf mich manchmal unentschlossen und zögerlich. Bass Gerrit Illenberger ist die solistische Zange. Er singt sowohl das eröffnende Solo als auch das letzte in der Passionskantate. Wirkt er im ersten Teil auf mich stabil, bewegt sein kräftiger energetischer Bass mein Inneres zutiefst.
Was mich an diesem Abend beglückt: ich sehe viel Talent, darunter neun barockgestählte historisch informierte angehende Chorleiter und Chorleiterinnen. Welch toller Ausblick auf die Zukunft für mich als Barockfan.
Frank Heublein, 21. Mai 2022, für
klassikbegeistert.de und klassikbegeistert.at
Programm
Passionskantate in zwei Teilen „Wer ist der, so von Edom kömmt“ (Pasticcio)
Besetzung
Sopran Isabella Gantner
Alt Julia Lautenbacher
Tenor Moritz Külbs
Bass Gerrit Illenberger
Vokalensemble des Profils Chorleitung
Instrumentalensemble mit Studierenden des Instituts für Historische Aufführungspraxis
Leitung: Studierende des Profils Chorleitung (Klasse Prof. Martin Steidler) Linda Dietrich, Charlotte Elbert, Anna-Lena Feldhäuser, Florian Grzeschik, Cordula Kraetzl, Regina Lederer, Monika Reichart, Milena Schex, Alexander Schmid
Les Troyens, Hector Berlioz, Bayerische Staatsoper, München, 09. Mai 2022 PREMIERE
Richard Strauss, Der Rosenkavalier Bayerische Staatsoper, München, 8. Mai 2022