Ein stolzes, hinreißendes Frauenteam begeistert für Kurt Weills Todsünden

Konzerthausorchester Berlin, Joana Mallwitz  Konzerthaus Berlin, Premiere am 2. Februar 2024

Foto: Joana Mallwitz (Foto: Simon Pauly)

Wirklich hochadelig aber sind und bleiben, mehr als alles andere, die heute versammelten Künste. Mögen sie es, in Freiheit, bleiben.

Richard Strauss, Tanz der sieben Schleier aus der Oper Salome

Kurt Weill, Sinfonie Nr. 2

Kurt Weill, Bertolt Brecht, Die sieben Todsünden, Ballett mit Gesang

Joana Mallwitz, Dirigentin

Katharine Mehrling, Gesang
Yui Kawaguchi,
Tanz
Michael Porter, Tenor
Simon Bode, Tenor
Michael Nagl, Bariton
Oliver Zwarg, Bassbariton

Katrin Sedlbauer, Regie

Konzerthausorchester Berlin

Konzerthaus Berlin, Premiere am 2. Februar 2024

von Sandra Grohmann

Neid, Völlerei, Habgier.
Wollust, Hochmut, Trägheit.
Und Zorn.

Die alten Bezeichnungen der sieben Todsünden, die in Kurt Weills und Bertolt Brechts gleichnamigen „Ballett mit Gesang“ zu Faulheit, Stolz, Zorn, Völlerei, Unzucht, Habsucht und Neid modernisiert werden, mahnen den katholisch geprägten Teil der Menschheit – wozu auch Brecht gehörte – seit etwa 1500 Jahren daran, Triebe zu zügeln und sich anständig zu benehmen. Und was auch immer wir unter anständig oder unanständig verstehen mögen – es ist jedenfalls höchst erfreulich, dass musikalische Hingabe, Spiel und Tanz nicht zu diesem uralten Katalog der inkriminierten Verhaltensweisen gehören.

Nur zur Erinnerung: Im reformierten Genf den 16. Jahrhunderts oder im heutigen Afghanistan war bzw. ist dies anders. Und im Nazideutschland 1933 waren auch Komponisten, war auch Kurt Weill von der Bücherverbrennung betroffen und verfemt. Weill emigrierte sofort und ging zunächst nach Paris.

Sein dort entstandenes „ballet chanté“ hat es bis heute zu einiger Bekanntheit gebracht. Und das trotz der streckenweise ein wenig holzhammerartig geratenen Texte Brechts, von diesem in zwei Wochen aufs Papier geworfen, die dem Werk in mancher Aufnahme hölzerne Unlust aufprägen: Wenn die daheimgebliebene, von einem Männerquartett gesungene Familie der zum Geldverdienen in die Welt geschickten Tochter etwa zum vierten Mal „Müßiggang ist aller Laster Anfang“ hinterherruft, muss die Interpretation schon eine geschickte Lösung finden, um in der geneigten Zuhörerschaft nicht die dem Zorn anverwandte Regung des Genervtseins hervorzurufen.

Joana Mallwitz (Foto: Simon Pauly)

Von alledem ist in der Aufführung unter Joana Mallwitz indes nichts zu spüren. Mallwitz begeistert wieder mit ihrem pointierten, vorwärtsdrängenden, musikalisch blitzklaren, ebenso durchdacht wie emotional anmutenden Stil, der von allen Mitwirkenden aufgegriffen und aufs Schönste mitgetragen wird. Und das, obwohl auf der Bühne des früher als Schauspielhaus bekannten Berliner Konzerthauses gar kein Platz ist für Ballett. Deshalb sind zwei Miniatur-Vorbühnen aufgebaut, auf deren einer die begnadete Katharine Mehrling die Anna I darstellt und singt, während auf der anderen die gottlob äußerst einfallsreiche Yui Kawaguchi die Anna II tanzt.

Die sieben Todsünden, Katharine Mehrling (Foto: Simon Pauly)

Auf vielleicht vier Quadratmetern lotet Kawaguchi, die zugleich choreographiert hat, nicht nur den Kosmos der durch die USA ziehenden Anna mit ihren zwei widersprüchlichen Seiten aus, sondern auch den musikalischen Kosmos Weills. Einer der witzigsten Momente des Abends: Kawaguchi als Charleston tanzendes Pferd, in der meisterlich gefertigten roten Pferdekopfmaske ihres Kostümbildners SADAK.

Für die Regie, die ebenfalls das begrenzte Bühnenangebot zum Anlass für gesteigerte Kreativität nahm und von der Orgelempore bis zu den Türen im Parkett einfach alles nutzt, was sich anbietet, gab es völlig gerechtfertigten Sonderbeifall. Katrin Sedlbauer umschifft, wie auch das gesamte übrige Ensemble, geschickt alle Einladungen des Textes zur Plattheit.

Brecht wollte das Stück zwar später in „Die Sieben Todsünden der Kleinbürger“ umbenennen – für den Fall, nehme ich an, dass irgendwer seine ironische Kritik nicht verstanden haben sollte. Sedlbauer konterkariert dies vom ersten Augenblick an schon dadurch, dass die zurückgebliebene kleinbürgerliche Familie im Frack singt.

Die sieben Todsünden (Foto: Simon Pauly)

Das Zeigen auf die tatsächliche oder vermeintliche Spießigkeit der Anderen (und immer nur der Anderen) wird dadurch zum Spiegel der Abendgesellschaft: sowohl die textliche Kleinbürgerlichkeit wie auch die durch Frack und Mehrlings klassisch langer roten Robe mit tiefem Ausschnitt verbildlichte große Welt, das sind alles in allem wir. Wir alle.

Die sieben Todsünden, Katharine Mehrling (Foto: Simon Pauly)

Vor diesem Hintergrund ist es dann doch etwas Besonderes, dass das künstlerische Team durch und durch weiblich ist. Die manchmal etwas brachiale Darstellung gesellschaftlicher Missstände auf den Bühnen deutscher Theater und Opern wirft ja schon länger die Frage auf, ob damit ein fragwürdiges Frauenbild nicht eher perpetuiert als angeprangert wird.

Wenn in den „Todsünden“ nun, wie es oft heißt, kleinbürgerliche Frauen karikiert werden, dann ist die Gefahr einer erneuten Darstellung von Misogynie, die selbst misogyn gerät, sehr naheliegend. Es ist deshalb wohltuend, dass die Frauen hinter und auf der Bühne die Oberhand behalten. Ich stelle das nicht gern heraus, weil es mir lieber wäre, wenn das nicht erwähnt zu werden bräuchte. Aber so ist unsere Welt nun einmal nicht.

Ich feiere darum, dass das mitreißende Dirigat einer selbstbewussten Dirigentin ergänzt wird von der souveränen Regie und einfühlsamen Choreographie zweier Frauen, die wissen, was sie tun. Und dass das umgesetzt wird von einer Schauspielerin, die ihre Worte extrem textverständlich zu platzieren weiß, die sehr langsam auf die Bühne schreitet und höchst aufrecht (so gerade möchte ich mal stehen können) vor dem Publikum steht.

Wir sehen, hören und erleben die Zerrissenheit dieser Anna, auch ihre (Selbst-)Demütigung, ohne dass aber die Figur zerstört oder auch nur herabgesetzt wird. Die Botschaft von Weill/Brecht, dass nämlich die Todsünden in Wirklichkeit Lebenselixiere sein können, wird mit dieser stolzen Interpretation mustergültig umgesetzt. Ohne jeden erhobenen Zeigefinger. Äußerst wohltuend.

Die sieben Todsünden (Foto: Simon Pauly)

Und dazu, das ist natürlich zu ergänzen, trägt auch das erwähnte Männerquartett das Seine bei. Stimmlich sehr homogen (trotzdem hervorstrahlend der Tenor von Michael Porter) und szenisch präsent gibt die holde Männlichkeit einen Hintergrundchor von geradezu antiker An- und Zumutung, indem sie das Geschehen andauernd kommentiert.

Einziger Wermutstropfen des Abends: Es muss mit Mikroports gesungen werden. Die Männerstimmen hätten das nicht gebraucht, und vermutlich führen sich überlagernde Schallwellen dazu, dass sie zu einem einzigen Brei verschmelzen, solange sie von der Empore unter der Orgel erklingen.

Jedenfalls im ersten Rang Seite ist das akustische Ergebnis beklagenswert. Wenn die Tontechniker des Konzerthauses sich dieses Phänomens annehmen könnten, würde sich das möglicherweise sehr lohnen. Glücklicherweise hört es auf damit, sobald die Herren herabgestiegen sind. Und bremst die Begeisterung für das Gesamtergebnis daher nicht.

Dieses durchaus überraschende Highlight der Konzertsaison (ich für meinen Teil habe zumindest nicht erwartet, dass ausgerechnet die Todsünden mich aus den Socken hauen würden), dieses Juwel also ist eingebettet in ein fein abgestimmtes Programm. Seine Thematik von Sünde und Tradition – auch in der Form von Ironisierung des Sündenbegriffs und Bruch mit der Tradition – umreißt der Abend in sich stimmig und facettenreich.

Vor der Pause kommt der Schleiertanz der sündhaften Salome zu Ohren, ein Stück, das auf die Wiener Musiktradition – mit der Richard Strauss zugleich bricht – zurückverweist, ebenso wie Weill in seiner zweiten Sinfonie knapp dreißig Jahre später auf diese Musiktradition, zugleich mit ihr brechend, Bezug nimmt. Diese zweite Sinfonie, mit ihrem langen langsamen Mittelteil oft als bedrückend beschrieben, darf sich für meinen Geschmack gern häufiger auf den Konzertbühnen einfinden. Mir kommt sie an diesem Abend allerdings gar nicht so schwermütig vor.

Fun fact: Sie wurde von einer Prinzessin in Auftrag gegeben. Wir bleiben also, auch nachdem wir den ruchlosen Hof von Herodes und Salome verlassen haben, dem Adel verbunden.

Wirklich hochadelig aber sind und bleiben, mehr als alles andere, die heute versammelten Künste. Mögen sie es, in Freiheit, bleiben.

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