Ladas Klassikwelt 101: „Wagners Geist dreht sich in gigantischen Kreisen, als ob er über eine kosmische Bewegungskraft verfügte".

Ladas Klassikwelt 101: Zdzisław Jachimecki (1882-1953)  klassik-begeistert.de, 18. Januar 2023

Foto: Zdzisław Jachimecki

„Wagners Kunst ist zum geliebten Eigentum der gesamten kulturellen Menschheit geworden, und das große Genie Wagner hat in der Kulturgeschichte einen ebenso hohen Platz eingenommen wie Leonardo da Vinci, Michelangelo, Shakespeare und Goethe“ – so schreibt Zdzisław Jachimecki (1882-1953) – polnischer Musikwissenschaftler, Komponist und Pädagoge sowie Autor der ersten ausführlichen Richard-Wagner-Biografie [1] in der polnischen Sprache (herausgegeben 1922, Warschau).


von Jolanta Łada-Zielke

Jachimecki erhielt eine musikalische Ausbildung in Klavier und Violine. Nach dem Studium am Konservatorium in Krakau ging er 1902 nach Wien, um sich in der Musikwissenschaft bei Guido Adler sowie in Kontrapunkt und Komposition bei Hermann Graedener und Arnold Schönberg weiterzubilden. Darüber hinaus studierte er Philosophie und Slawistik.

Er veröffentlichte seine Artikel in polnischen Zeitschriften und komponierte Lieder zu Gedichten polnischer Dichter. Nach seiner Rückkehr nach Krakau wurde er Dozent und ab 1918 Professor für Musikwissenschaft an der Jagiellonen-Universität. 1932-33 war er hier Dekan der Philosophischen Fakultät. Daneben gab er Gastvorlesungen in Rom, Florenz, Padua, Bologna, Hamburg, Frankfurt und Budapest. Er beschäftigte sich hauptsächlich mit polnischer Musik, erarbeitete aber noch die Biografie von Josef Haydn (1910).

Bei der Beschreibung Richard Wagners Leben und Schaffen greift Jachimecki auf die damals verfügbaren deutschsprachigen Quellen zu. Er zitiert Passagen aus „Mein Leben“, Wagners Briefen, verweist auf Autoren wie Houston Stewart Chamberlain, Hugo Riemann, Richard Pohl, Henri Lichtenberg, Carl Friedrich Glasenapp, Heinrich Porges, Guido Adler, der die Anhänger Wagners als „Wagneriten“ bezeichnete, sowie Wagners schärfsten Kritiker Eduard Hanslick.

Jachimecki übersetzt selbst Fragmente von Wagners Opernlibrettos ins Polnische, weil er die damals vorhandenen Übersetzungen als unvollkommen empfindet. Dies war keine leichte Aufgabe, denn im Deutschen gibt es mehr einsilbige Wörter, die Wagner meistens an das Ende der Verse setzt. Allerdings kommt Jachimecki damit klar, weil er beide Sprachen fließend beherrscht. Er übersetzt sogar die gereimte Widmung an König Ludwig II., dem Wagner die „Liebesverbot“- Partitur zu Weihnachten 1868 schenkte.

Der polnische Biograph Wagners setzt Auszüge aus den Partituren der Werke ein und analysiert detailliert die Leitmotive. Er ist der Ansicht, dass bereits „Der fliegende Holländer“ ein vollständiges Musikdrama sei. Nur das Duett des Holländers mit Daland erinnert an den früheren Opernstil, wobei Dalands Staccato mit der fließenden Melodie der Titelfigur kontrastiert. Andererseits beginnt mit der Uraufführung des „Tannhäuser“ Wagners vorteilhafte Tätigkeit in der dramatischen Musik, seine künstlerische Mission im Namen der höchsten Ideale der Kunst und gleichzeitig der Kreuzzug gegen seine Kunst.

Als Philologe beschreibt Jachimecki poetisch seine Eindrücke von Wagners Opern. Das Vorspiel zu „Tristan“ ist für ihn „eine Arche von akustischer Schönheit, die in allen Farben des Orchesters schimmert“. Der polnische Wagner-Kenner weiß nicht, was er hier mehr bewundern soll: „die melodische Linie oder die Tiefe des harmonischen Klangs, das weiche, wie die Farben eines Regenbogens leuchtende Orchester oder ein zartes mehrstimmiges Intervall“. Die Summe all dessen ergibt die ideale Welt – das musikalische Universum. Solche „erotische Erregung“ hat, selbst teilweise, kein anderes künstlerisches Werk erreicht. „Isoldes Liebestod“ nennt Jachimecki „den strahlenden Diamanten auf der Spitze dieser Krone der Schauspielmusik“. Der „Parsifal“ wiederum ist „ein Schwanengesang des Meisters, ein prächtiges Bühnenfest“. Den Namen der Hauptfigur leitet der Musikwissenschaftler vom griechischen Wort Peredur ab, das aus dem Begriff „per-gedur“ kommt (jemand, der eine Schale, hier: den heiligen Gral – sucht). Das Hauptziel der Musik in dieser Oper ist es, beim Zuhörer Mitgefühl zu wecken. Jachimecki vergleicht die „engelhafte Reinheit“ des Genugtuungsmotivs aus dem dritten Akt von „Parsifal“ mit Mozarts „Ave verum“. „Die Meistersinger…“ bezeichnet er als ein Elfenbeinornament.

Die Grundidee des „Ring des Nibelungen“ – die verfluchte Macht des Goldes – ist für Jachimecki so klar, dass er sich wundert, warum manche Menschen dem Werk trübe metaphysisch-philosophische Theorien vorwerfen. „Die Wahrheit dieser Musik ist so menschlich, als ob wir unsere eigenen Gefühle in ihr hören würden, als ob wir das Leben in ihr sehen und fühlen würden“, schreibt er. Einige musikalische Landschaften im „Siegfried“ vergleicht er mit den Gemälden von Jean-Baptiste Camille Corot. Sie beweisen, in welch engem Kontakt mit der Natur Wagner lebte und wie sehr er sie liebte. Jachimecki glaubt, dass Wagner, obwohl er kein Kirchenkomponist war, einen religiösen Ton anschlug, und so immer ausdrückliche Werke von großer Tiefe schuf, die „die Seele bis auf den Grund durchdrangen“ – vom Rienzi-Gebet bis fast zum ganzen „Parsifal“.

Der Autor der polnischen Wagner-Biografie bespricht ebenfalls die theoretischen und musikalischen Texte des Komponisten. Er behauptet jedoch, dass manche dieser Schriften, mit Ausnahme des letzten Abschnitts von „Oper und Drama“, „trocken, schwer verständlich und uninteressant“ seien. Jachimecki schließt sich hier der Meinung von Heinrich Finck an, dass nur ein begeisterter Verehrer Wagners Opern diese Texte von Anfang bis Ende lesen könnte.

Jachimecki widmet einige Zeilen der „Polonia“- Ouvertüre (1836), deren letzte Aufführung Wagner selbst 1881 in Palermo dirigierte. Sein polnischer Biograph wollte ein Fragment der Partitur des Werks in seinem Buch unterbringen und schrieb an die Familie Wagner, die leider mit der Veröffentlichung nicht einverstanden war. Jachimecki sieht in der „Faust“-Ouvertüre den Einfluss Chopins und stellt die These auf, dass Wagner sich im harmonischen Sinne als Schüler und Nachfolger Chopins bezeichnen sollte. Chopin arbeitete bereits in den frühen Jahren mit solchen harmonischen Mitteln, die Wagner erst im „Tristan“ erreichte.

Aus Wagners Privatleben wählt Jachimecki nur die für das Werk des Komponisten bedeutende Fakten aus. Er stellt fest, dass der Künstler manchen von ihm selbst verkündeten Prinzipien widersprach. Wagner war keineswegs ein großzügiger König Marke oder Hans Sachs, sondern eher ein „krankhaft launischer Epikureer“. Ehrensüchtig war er jedoch auch nicht. Er lehnte den Doktorhut der Universität Oxford ab und behauptete, dass der Titel für Brahms und Joachim ausgereicht habe. Am Ende des Buches schreibt der polnische Musikwissenschaftler über den Einfluss von Wagners Musik auf die Werke von Richard Strauss, Gustav Mahler, Anton Bruckner und Hugo Wolf.

Jachimecki hält manche Formulierungen in Wagners Autobiografie für tendenziös. Der Komponist äußert sich wenig schmeichelhaft über seine erste Frau Minna, um sie in Gegensatz zu Cosima zu setzen. Zum Ehepaar Wesendonck gebe Wagner „unklare und negative Informationen (…) als wolle er die Entstehung von „Tristan und Isolde“ aus seinem Lebenslauf tilgen“. Die wahre Genese des Werks lernte die Welt erst 1904 kennen, als die Briefe von Richard Wagner und Mathilde Wesendonck im Druck erschienen. Diese Korrespondenz zeigt, wie sich ihre Beziehung veränderte. Die ersten Briefe des Komponisten an Mathilde sind voll von zärtlichen Worten. Die letzte Botschaft an seine Muse schließt Wagner mit Grüßen nicht nur von sich selbst, sondern auch von seiner zweiten Frau Cosima – „als ob er über seine früheren erhabenen Gefühle lachen würde“, so Jachimecki.

Den Grund für das Pamphlet „Das Judenthum in der Musik“ sieht Jachimecki in der Rivalität zwischen Wagner und Meyerbeer. Wagner wollte damit seinen älteren Kollegen schlagen, hat aber Tausende andere Menschen getroffen. Er schrieb diesen Text nicht „mit Blut, sondern mit Galle“, so dass alle Argumente und Anschuldigungen nicht gerechtfertigt sind. An anderer Stelle behauptet Jachimecki, dass „der Selbsterhaltungstrieb der germanischen Rasse angesichts der >>jüdischen Gefahr<< Wagner dazu brachte, ein Vertreter des Volkes zu werden und in dessen Namen zu sprechen“.

Ich habe ein Exemplar der ersten Ausgabe des Buches von meiner Familie aus Schweden geschenkt bekommen. Dies enthält Fotografien, Reproduktionen der wunderschönen Stiche von Hans Makart, Gabriel Max und Hermann Hendrich, die Szenen aus Wagners Opern darstellen, sowie Karikaturen aus Zeitschriften der damaligen Zeit. Einige Beschreibungen der Werke des Bayreuther Meisters habe ich mit Tränen in den Augen gelesen, als ob ich dabei seine Musik in der schönsten Aufführung hörte. Diese Lektüre hat meine Coronavirus-Erkrankung im Oktober letzten Jahres erträglicher gemacht.

In den ersten Nachkriegsjahren trennten sich die Polen streng von der deutschen Kultur. Richard Wagner war von ihnen als Hitlers Lieblingskomponist und Antisemit besonders verhasst. Zdzisław Jachimecki, obwohl er selbst eins der Opfer der Sonderaktion Krakau [2] war, versuchte den Bayreuther Meister zu rehabilitieren. Zwei weitere Auflagen seines Buches über den Komponisten erschienen in Polen nach dem Krieg. Für die Verbreitung unverfälschter und objektiver Kenntnis Wagners in meiner Heimat hat Jachimecki zweifellos die größten Verdienste erworben.

Jolanta Łada-Zielke, 18. Januar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Jolanta Łada-Zielke, Jahrgang 1971, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anläßlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre  journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA.  Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.

[1] Die erste polnische Monografie Richard Wagners schrieb um 1859 Warschauer Musikkritiker und Begründer der Zeitschrift „Ruch Muzyczny“ Józef Sikorski, der die bis zu diesem Zeitpunkt entstandenen Werke Wagners analysierte.

[2] Am 6. November 1939 verhafteten die Nazis im besetzten Krakau mehr als 100 Professoren und Dozenten der Jagiellonen-Universität und deportierten sie in das KZ-Sachsenhausen. Auf Druck der internationalen Öffentlichkeit ließ man einige von ihnen drei Monaten nach frei.

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