Ladas Klassikwelt 107: Hans Swarowsky hütete die Geheimnisse seiner Musiker ebenso wie seine eigenen

Ladas Klassikwelt 107: Hans Swarowsky hütete die Geheimnisse seiner Musiker ebenso wie seine eigenen

Foto: Hans Swarowsky

Die Philharmonie des Generalgouvernements und ihre Dirigenten – Teil 2.


von Jolanta Łada-Zielke 

Hans Swarowsky, so Karajan, war der bedeutendste Dirigierprofessor des 20. Jahrhunderts, der solche Persönlichkeiten wie Claudio Abbado, Riccardo Muti, Gabriel Chmura, Zubin Mehta, Maris Jansons und Giuseppe Sinopoli ausgebildet hat. Joanna Wnuk Nazarowa, die unseren Lesern bekannte polnische Komponistin, studierte ebenfalls Dirigieren an der Musikhochschule in Krakau. 1970 und 1971 nahm sie an berühmten Meisterkursen von Hans Swarowsky in Ossiach (Kärnten) teil.

„Nach zwei Jahren des Studiums reiste ich nach Ossiach zu einem Interpretationskurs der klassischen und ein Jahr später der romantischen Musik“, so Wnuk-Nazarowa. „Im Jahre 1970 war ich die einzige Frau dort. Die anderen Kursteilnehmer kamen aus Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich. Swarowsky war damals siebzig Jahre alt. Als er erfuhr, dass ich aus Krakau bin, interessierte er sich sehr für mich, da er mehrere dortige Musiker kannte. Er fragte mich, ob sie noch leben und beruflich aktiv sind. Während meines Studiums nahm ich zusätzlichen Schlagzeugunterricht bei Professor Józef Stojko, um dieses komplizierte Instrumentarium besser kennenzulernen. Swarowsky fragte mich nach Stojko zuerst und freute sich, als ich sagte, dass er sowohl spielt, als auch seine eigene Schlagzeugklasse an der Musikhochschule leitet. Im Orchester des Generalgouvernements war er Pauker. Dann begann Swarowsky mir davon zu erzählen, als er künstlerischer Leiter der GG-Philharmonie war. Die Geschichte des GG-Orchesters kannte ich bereits von Leon Solecki, dem Schwiegervater von Krzysztof Penderecki, wusste aber nicht, dass auch Swarowsky etwas damit zu tun hatte“.

 Im Frühjahr 1944 begann Rudolf Hindemith, der bisherige künstlerische Leiter des Philharmonischen GG-Orchesters, gesundheitlich zu schwächeln. Seine Aufgaben übernahm der österreichische Dirigent Hans Swarowsky, der das Ensemble zuvor achtmal geleitet hatte. Er behandelte die Musiker auf die gleiche Weise wie seine Vorgänger. Es gelang ihm, einige soziale Erleichterungen für sie zu erwirken, wie bessere Lebensmittelkarten, oder die Unterkünfte für Menschen von außerhalb Krakaus. Er behielt diese im Orchester und beschützte seine jüdischen Mitglieder, die Hindemith früher gerettet hatte.

In der letzten Saison der Tätigkeit des GG-Orchesters – vom 17. Oktober 1944 bis zum 14. Januar 1945 – fanden 35 Konzerte statt, die meisten davon für polnische Bürger. Im Laufe des Jahres 1944 verließen viele Deutsche Krakau aus Angst vor der herannahenden Ostfront. Neben Swarowsky leiteten die Konzerte Rudolf Erb, Horst Tanu-Markgraf und Clemens Krauss. Im Innenhof des ältesten Gebäudes der Jagiellonen-Universität in Krakau – dem Collegium Maius – veranstaltete man Sommerkonzerte genannt „Serenaden“.

Eines der Konzerte für polnische Arbeiter fand unter der Leitung von Swarowsky am 15. September 1944 im Hof der Regierungsgaragen des Generalgouvernements statt. Die polnische Sopranistin aus Lemberg, Rena Kopczynska, trat dort auf. Einige Zuschauer saßen auf den Motorhauben von Autos oder auf Lastkraftwägen. In den letzten Wochen der Existenz des Generalgouvernements führte mit dem GG-Orchester die ungarische Virtuose-Geigerin Johanna Martzy Mozarts Rondo und Ries‘ Capriccio auf. Der Rezensent der Krakauer Zeitung war begeistert von der Einfachheit ihres Spiels, insbesondere von der „seelenvollen Bogenführung“. Stanisław Lachowicz, Autor der Monografie „Musik im von Nazis besetzten Krakau“, betrachtet die Rezensionen in dieser Zeitung lediglich als Information. Seiner Meinung nach seien diese nicht maßgebend, weil sie eher einer Werbung als einer Kritik ähneln.

Johanna Martzy

Ab Herbst 1942 leitete Rudolf Erb, der zweite künstlerische Leiter der GG-Philharmonie, dort den 80-köpfigen Chor. Er trat mit J. S. Bachs „Magnificat“, Haydns „Die Schöpfung“, Brahms Requiem (in der Kirche St. Peter und Paul in Krakau) und Beethovens Neunte auf. Man stellte doppelt so viele Ausweise für Chormitglieder aus, wie tatsächlich angestellt waren. Auf diese Weise bekamen viele Bedürftige eine fiktive Arbeitskarte. Joanna Wnuk-Nazarowa fügt ein weiteres Detail hinzu: „Diese fiktiven Chormitglieder lieferten den Partisanen im Wald Lebensmittel. Dank der falschen Dokumente durften sie sich nach der Ausgangssperre frei in der Stadt bewegen. Sie kamen aber nicht zu den Proben und man wusste nicht, ob sie überhaupt singen konnten. Swarowsky war sich dessen wohl bewusst“.

 Die Neunte zum Abschied

Der österreichische Dirigent selbst hatte etwas zu verbergen. „Er war unehelicher Sohn einer Wiener Operettensängerin polnischer Abstammung und eines jüdischen Bankiers, der bereits eine Familie hatte.“, erklärt Joanna Wnuk-Nazarowa. „In Wien war das ein offenes Geheimnis, und man fragt sich, warum die Nazis Swarowsky so respektierten. Nun, in seiner Geburtsurkunde stand „Vater unbekannt“. Dieser Bankier zahlte zwar für seinen Unterhalt sowie seine Ausbildung und lud ihn zu sich – mit Erlaubnis seiner Ehefrau – zum Spielen mit seinen Kindern ein. Aber die offizielle Version der unbekannten Herkunft des Vaters schützte Swarowsky vor Repressionen. Lange nach dem Krieg, als er bereits in Österreich lebte, verriet er sein größtes Geheimnis: Er war während des Krieges ein englischer Spion gewesen. Der Dirigent verbarg es so geschickt, dass die Nazis das nicht mitbekamen. Und er war ein häufiger Gast von Gouverneur Frank auf dem Krakauer Wawel-Schloss, erhielt sogar ein Ehrenkreuz“.

 Als sich die sowjetischen Truppen unter Marschall Konew Krakau näherten, verschwieg der künstlerische Leiter der GG-Philharmonie eine weitere Aktion des Ensembles.

„Das gesamte Notenmaterial sollte man nach Deutschland transportieren“, erzählt Joanna Wnuk-Nazarowa. „Ein polnische Bibliothekar packte ganze Sätze der Symphonien von Brahms, Beethoven, Bruckner, Schumann und anderen in Kisten. Dies waren wunderschöne Herausgaben von dem Wiener Universal, von dem deutschen Peters und Breitkopf. Swarowsky erzählte mir, dass er nach einer Vermutung in eine der Kisten tiefer schaute. Er sah, dass da ganz oben eine Stimme der ersten Geige lag, und darunter nur die Zeitungen. Swarowsky lächelte in sich hinein und dachte: >> Na, dann habt ihr ja nach dem Krieg etwas zum Spielen. << Der Bibliothekar packte eine einzelne Orchesterstimme von denen, die im Orchester zahlreicher waren ein. >> Alle dachten, ich wüsste nichts davon, aber ich wusste es Bescheid. <<“, gab Swarowsky zu.

Die Programme der Konzerte für polnische Arbeiter unter der Leitung von Swarowsky

Hans Swarowsky dirigierte sein letztes Konzert in Krakau am 9. Januar 1945 für die Deutschen und am 14. Januar für die Polen. Er blieb gewollt länger in Krakau um noch dieses zweite Abschiedskonzert zu führen. Das GG-Orchester spielte unter seiner Leitung Beethovens Neunte. Dann packte der Maestro sofort seine Sachen und verließ die Stadt. Wäre er geblieben, hätten die Russen ihn getötet oder in einen Gulag verschleppt, auch weil sie von seinen Aktivitäten gegen die Nazis wussten. Am 18. Januar erschienen Soldaten der Roten Armee in Krakau. Leszek Izmaiłow berichtete, dass einige Musiker der GG-Philharmonie vor dem Gebäude Wache standen, um die Sowjets nicht hineinzulassen, weil sie mit Sicherheit die Instrumente und Noten zerstört, oder alles geplündert hätten.

Am 3. Februar 1945 fand das erste Konzert in der neugegründeten Krakauer Philharmonie statt, die man von nun an für die erste und einzige richtige vor Ort halten sollte. Einige Musiker des ehemaligen GG-Orchesters durften in dem neuen Orchester nicht spielen. Die anderen stellte man vor eine Verifizierungskommission. Beide Helden des Artikels von Agnieszka Malatyńska-Stankiewicz mussten eine Erklärung vor ihr abgeben. Man fragte Leszek Izmaiłow: „Haben Sie in dem GG-Orchester gespielt?“; „Ja.“, antwortete er. „Haben sie das genossen?“; „Ja.“ Und das war alles. Elżbieta Wysocka versuchte, die deutschen Dirigenten zu verteidigen: „Aber es waren keine schlechten Deutschen, sondern wunderbare Musiker! Es war mir eine große Freude, in diesem Ensemble zu spielen“, erklärte sie. Dann gab der Ausschuss sein Urteil schriftlich ab: „Aufgrund ihrer Minderjährigkeit erteilen wir unserer Kollegin nur einen strengen Verweis“. Einen Verweis konnte man ebenso dafür bekommen, wenn man dem Gouverneur Frank die Hand geschüttelt hat, als dieser einem Künstler gratulieren wollte. Nach Ansicht des Ausschusses hätte der polnische Musiker diese Geste nicht annehmen dürfen. Die härtere Strafe war für Musiker ein dreimonatiges Berufsverbot.

Die Philharmonie in Krakau bleibt immer noch in ihrem ursprünglichen Gebäude seit 1940

Joanna Wnuk-Nazarowa kennt Beispiele dafür, wie die von den neuen Behörden „verbannten“ Musiker mit dieser Situation umgingen:

„Ein Bratschist des GG-Orchesters Witold Kałka-Rowicki, späterer Dirigent der Nationalphilharmonie (der übrigens bei Rudolf Hindemith Dirigieren erlernte), beschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Er sammelte einige dieser „ausrangierten“ Instrumentalisten ein, fuhr mit ihnen nach Kattowitz und rekrutierte sie für das gerade reaktivierte Rundfunksymphonieorchester, aus dem später das WOSPR und mein NOSPR hervorgingen. Dort fragte niemand, woher sie kamen oder was sie vorher gemacht hatten, weil die Musikliebhaber ein Rundfunkorchester haben wollten. Die anderen Mitglieder dieses Orchesters kamen unter anderem aus Warschauer Rundfunkorchester von Grzegorz Fitelberg, das vor dem Krieg agierte. Rowicki gelang es nicht, alle „verfluchten“ Musiker zu engagieren, aber nach einiger Zeit durften einige zur Krakauer Philharmonie zurückkehren. Als ich die Direktorin dieser Institution war, besuchten uns pensionierte Musiker, ehemalige Mitglieder des GG-Orchesters. Sie sprachen nur sehr ungern über ihre Mitgliedschaft in diesem Ensemble, vor allem wegen der Repressionen, die sie in der Nachkriegszeit erlebt hatten.“

 Agnieszka Malatyńska-Stankiewicz stellte ihren Gesprächspartnern eine entscheidende Frage: „Hat man wirklich die Arbeit in der GG-Philharmonie für eine Kollaboration mit Nazis gehalten?“ Beide antworteten einhellig, dass dies nicht der Fall gewesen sei. „Es gab keine Verurteilung“, so Izmaiłow, „Dies war eine rein künstlerische Institution“. „Außerdem wollten alle leben und den Krieg überleben“, betonte Elżbieta Wysocka. Man versuchte jedoch mehrere Jahrzehnte lang, die Geschichte der GG-Philharmonie zu verschweigen, um nicht zu zeigen, dass die Krakauer Philharmonie aus ihr hervorgegangen ist. Viel später warf ein Geiger aus Warschau, Elżbieta Wysocka vor: „Du hast bei den Deutschen gespielt, und ich musste mit einer Schaufel arbeiten“.

Stanisław Lachowicz überlegt, welche Alternative einem polnischen Berufsmusiker zu dieser Zeit übrigblieb. „Er hätte sich eben zum Arbeiter, Landwirt, Ingenieur, Kaufmann, Angestellten umschulen lassen können, und manchmal hat er das auch getan. Aber wer weiß, ob er dann nicht effektiver im GG oder, deportiert, im Reich der NS-Kriegsmaschinerie dienen musste. Andererseits hat er durch seinen Fleiß und seine musikalische Praxis nicht nur überlebt, sondern auch seine beruflichen Qualifikationen erworben und verbessert, um sie (…) in der befreiten Heimat zu nutzen“.

 Man kennt Oskar Schindler als Retter der Krakauer Juden, weil er viele von ihnen in seiner Emailfabrik beschäftigte. Dazu hat vor allem Steven Spielbergs berühmter Film „Schindlers Liste” beigetragen. Die Krakauer Philharmoniker hatten in der Nazi-Besatzungszeit drei solcher „Oskars“.

Dies waren ihre herausragenden Dirigenten, die ihnen sowohl im fachlichen als auch im menschlichen Sinne, nach ihren Möglichkeiten halfen. Die Erinnerung an sie ist in den dankbaren Herzen der polnischen Musiker lebendig geblieben.

Jolanta Łada-Zielke, 24. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Quellen:

  • Blog: https://deutscheskrakau.wordpress.com/
  • Agnieszka Malatyńska-Stankiewicz, „Koncert dla wrogów”, Dziennik Polski 2010
  • Stanisław Lachowicz „Muzyka w okupowanym Krakowie”, 1988
  • Mein Interview mit Joanna Wnuk-Nazarowa
  • Alle Bilder in dem Beitrag stammen aus dem Öffentlichen Bereich des Nationalen Digitalen Archiv Polens

Jolanta Łada-Zielke, Jahrgang 1971, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anläßlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre  journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA.  Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.

Ladas Klassikwelt 106: Hans Frank war zu Tränen gerührt vom Spiel der polnischen Musiker klassik-begeistert.de, 24. April 2023

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert