Ich musste beim Singen wieder gegen Tränen kämpfen, versuchte aber, das so gut zu machen, wie ich es nur konnte. Das war mein Abschied von Silke. Hoffentlich genießt sie, da wo sie sich jetzt befindet, viel Musik, die sie so sehr liebte.
von Jolanta Lada-Zielke
Silke und ihre Familie gehören zum Freundeskreis meines Mannes und sind auch meine Freunde geworden. Ich habe sie kennengelernt, als wir von München nach Hamburg gezogen waren. Als echte Musikliebhaber besuchten sie gerne Konzerte, darunter meine Liederabende und die Konzerte von meinem Chor.
Anfang November letzten Jahres überraschte uns eine traurige Nachricht; bei Silke wurde ein Bauchspeicheldrüsenkrebs entdeckt. Zunächst war uns nicht bewusst, wie ernst die Lage wirklich war. Wir dachten, den Krebs kann man doch mit Medikamenten und Chemotherapie bekämpfen, oder durch eine Operation entfernen.
Silke kam ins Krankenhaus in Altona, wo wir sie an einem Samstag besuchten. An dem Tag hatte ich ein Chorkonzert mit dem „Messias“ von G.F. Händel und verbrachte bei Silke den Zeitraum zwischen der Generalprobe und dem Auftritt. Sie war ziemlich gut gelaunt und wir dachten, sie hätte genug Kraft, um die Krankheit zu besiegen. Da sie das Krankenhaus für ein paar Stunden verlassen durfte, machten wir einen schönen Spaziergang in der Nähe. Dann saßen wir zu dritt in einem kleinen, gemütlichen Café.
„Schade, dass ich zu deinem Konzert nicht mitkommen kann“, sagte sie zu mir.
„Hauptsache, du wirst wieder gesund sein“, tröstete ich sie.
Einige Tage später recherchierte mein Mann im Internet und fand heraus, dass genau diese Art von Krebs tödlich ist. Nach der Feststellung der Diagnose leben die Betroffenen durchschnittlich noch einige Monate lang. Wir waren aber guter Hoffnung, dass Silke sich nicht entmutigen lässt.
Im Dezember war ich für eine Woche nach Polen verreist. Eines Abends rief mich mein Mann an und erzählte, dass Silke zwei Schlaganfälle nacheinander erlitt. Die Ärzte gaben auf und entließen sie aus dem Krankenhaus. Sie landete im Hospiz „Sinus“ in Altona. Damit fing ein neues Kapitel in unserem Leben an, der mit Besuchen im Hospiz geregelt wurde.
Wir waren fast jede Woche bei Silke. Sie kämpfte die ganze Zeit, ihr Zustand verschlechterte sich jedoch wesentlich nach und nach. Sie war immer noch bei Bewusstsein, aber die Schmerzmittel, die sie regelmäßig nahm, machten sie schwach und schläfrig. Im Januar dieses Jahres konnte sie noch die Mahlzeiten in der Küchenanlage im dritten Stock des Gebäudes genießen.
Wir begleiteten sie einmal beim Mittagessen.
„Schade, dass ich keins von deinen Konzerten mehr besuchen kann“, sagte sie zu mir traurig.
Ich schaute mich in dem Raum um und bemerkte ein Elektroklavier in der Ecke.
„Weißt du was? Ich mache hier ein Konzert für dich. Und vielleicht für andere Patienten des Hospizes auch. Was hältst du von Liedern aus den Zwanzigern?“
Silke fand die Idee gut und freute sich über den Vorschlag. Zwar war das nicht das einzige Musikerlebnis, das sie während des Aufenthalts im Hospiz hatte, weil dort viele musikalische Veranstaltungen stattfanden, von mir aus war es das Beste, was ich für sie machen konnte.
Kurzfristig besprach ich das Programm meines Auftritts mit den zuständigen Mitarbeitern des Hospizes. Der Termin wurde auf den siebten März festgelegt. Sie baten mich, besonders fröhliche Lieder aufzuführen. Dann wählte ich mit meiner Pianistin einige aus dem Repertoire der Comedian Harmonists aus: „Musik! Musik! Musik!“, „Veronika! Der Lenz ist da“, und „Mein kleiner grüner Kaktus“, was sich Silke selbst wünschte. Dazu kamen die Schlager aus ersten deutschen Tonfilmen: „Eine Nacht in Monte Carlo“, „Spiel mir auf der Balalaika einen russischen Tango“, und „Mädel, wenn ich dir raten kann“.
Der kleine Liedervorabend fand im ersten Stock statt. Die Stimmung war angenehm, im Publikum saß vor allem Silkes Familie, aber andere Patienten kamen auch dazu. Für die, die sich nicht bewegen konnten, öffnete man die Tür ihrer Zimmer, sodass sie etwas von dem Konzert mitbekommen konnten. Auch Silke konnte mich leider nur aus dem Inneren ihres Zimmers hören, weil sie sich an diesem Tag ziemlich unwohl fühlte. Sie hatte jedoch genug Kraft um im einen Moment „Bravo“ zu rufen… das berührendste „Bravo“ das ich je bekommen habe…
Für mich war es nicht so leicht zu singen, als ich sah, dass einige Zuschauer anfingen zu weinen. Und zwar bei einem so lustigen Lied wie „Veronika…“ Meine Kehle war fast von Tränen zugeschnürt, die ich tief in mir hatte. Am Ende der Veranstaltung kam eine der Schwestern von Silke auf mich zu und fragte, ob ich auch bei ihrer Beerdigung singen könnte. Natürlich sagte ich „ja“, mir war aber komisch zumute. Sie lebte doch noch, warum spricht man da schon von der Beerdigung?! Aber ihre Familie nahm langsam Abschied von ihr und hatte keinen Zweifel mehr, dass sie diese Welt bald verlassen würde. Und das war richtig. Silke starb genau einen Monat später, am 6. April. Sie war 58 Jahre alt.
Meine Pianistin und ich bereiteten zwei Stücke für Silkes Bestattung vor: „Gib dich zufrieden und sei stille“ von Johann Sebastian Bach und „Friede sei mit euch“ von Franz Schubert. Für das zweite Stück schlug sich das Notenbuch von selbst auf, als ob Silke dieses Lied für sich ausgewählt hätte. Sie wurde am Gründonnerstag am Friedhof Bergstedt bestattet. Die Trauerfeier fand bei schönem Wetter und in der Anwesenheit ihrer Verwandten und vielen Freunden statt, die sie auf ihrem letzten Weg begleiteten. Ich musste beim Singen wieder gegen Tränen kämpfen, versuchte aber das so gut zu machen, wie ich es nur konnte. Das war mein Abschied von Silke. Hoffentlich genießt sie, da wo sie sich jetzt befindet, viel Musik, die sie so sehr liebte.
Jolanta Lada-Zielke, Hamburg, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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Jolanta Lada-Zielke, 48, wurde in Krakau geboren, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert, danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre in dem Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART im Bereich „Bayreuther Festspiele“ zusammen. 2003 hat sie ein Stipendium vom Goethe Institut Krakau bekommen. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie aus privaten Gründen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA. Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den Dreißigern.