Ladas Klassikwelt 86: Weihnachtslieder in der Nachbarschaft ...

Ladas Klassikwelt 86: Weihnachtslieder in der Nachbarschaft,  klassik-begeistert.de


…Erinnerungen an eine winterliche Reise mit Krakauer Chören in die Ukraine

Erzählt von Jolanta Łada-Zielke

Die Weihnachtslieder-Tour in die Ukraine mit dem Akademischen Chor Organum Krakau zwischen Weihnachten 1997 und Neujahr 1998 war für mich eines der schönsten musikalischen Erlebnisse. Wir fuhren tausende Kilometer mit dem Bus. Zu dieser Zeit studierte ich im letzten Jahr der Gesangsfakultät der Musikoberschule in Krakau und bereitete mich auf meine Diplomprüfungen vor. Im November starb meine geliebte Großmutter, was für mich ein schwerer Schlag war. Während dieser Konzertreise erholte ich mich ein bisschen von diesem Verlust. Zumal meine Großmutter in Lemberg (Lwiw) geboren wurde, das auf unserer Route lag.

Neben den Mitgliedern des Organum-Chores waren einige Leute vom Krakauer Philharmonischen Chor als Aushilfe dabei. Das Instrumentalensemble „Ricercar“ begleitete uns. Wir reisten in Gebiete, die vor dem Zweiten Weltkrieg zu Polen gehört hatten. Viele unserer polnischen Landsleute blieben dort nach 1945. Die Sowjets stellten sie vor die Wahl: Sie würden entweder die Staatsbürgerschaft der Ukrainischen Sowjetrepublik annehmen oder sie mussten ausreisen. Nicht jeder konnte von dieser Möglichkeit Gebrauch machen.

Die erste ukrainische Stadt, in der wir ein Weihnachtsliederkonzert gaben, war Stryj, nahe der polnischen Grenze. Wir waren dort bei polnischen Familien untergebracht. Ich übernachtete mit zwei anderen Mitsängerinnen bei Helena, einer Polin, die mit ihrem ukrainischen Mann und ihrem Sohn in einem Wohnblock lebte. Die Wohnung sah ordentlich aus, aber die sanitären Bedingungen waren schrecklich. Warmwasser gab es nur zweimal pro Woche für eine Stunde. Unsere Gastgeberin empfing uns mit allem, was sie hatte. Dies ist die traditionelle Gastfreundschaft der Menschen aus dem Osten – meine Großmutter war auch so herzlich. Helena erzählte uns, dass ihre Familie nach dem Krieg aus finanziellen Gründen nicht nach Polen ausreisen konnte. Eines Tages im Jahr 1946 kam die sowjetische Geheimpolizei, um ihren Vater zu holen. Sie nahmen ihn mit, und seitdem weiß niemand, was mit ihm passiert ist.

In der Stadt herrschte jetzt eine große Arbeitslosigkeit, und diejenigen, die arbeiteten, erhielten monate- oder sogar jahrelang keinen Lohn. Die Leute schafften es dennoch irgendwie sich über Wasser zu halten, indem sie auf dem lokalen Markt handelten. Autobesitzer nahmen Passagiere gegen eine geringe Gebühr mit. Mit solch einem „Taxi“, also einem klapprigen Moskvitsch, kamen wir zu unserer ersten Probe in der Mariä-Geburts-Kirche. Auf dem Programm standen neben polnischen Weihnachtsliedern die Psalmen des polnischen Renaissance-Komponisten Mikołaj Gomółka, eine zeitgenössische Messe von Józef Świder und Mozarts „Halleluja“.

Schon während unserer Anspielprobe traten einige Zuschauer in die Kirche, vor allem ältere Menschen. Als wir anfingen, das polnische Lied „Wśród nocnej ciszy” (In der Nachtstille) zu üben, bemerkte ich, dass eine Dame weinte. In dem Moment sind auch mir die Tränen aus den Augen geflossen.

Ich konnte mir gut vorstellen, wie sich Menschen fühlen, die ihrer Heimat beraubt wurden, die jeden Tag gezwungen sind, eine andere Sprache zu sprechen, und plötzlich hören sie ihre traditionellen Weihnachtslieder. Andere Mitsänger spürten das auch. Wir beschlossen, während des Konzerts nicht auf das Publikum zu schauen, sondern erst danach. Ansonsten würden wir anfangen zu weinen und könnten nicht mehr singen.

Die nächsten Städte auf unserer Route waren Lemberg und Kolomyia, wo die örtliche katholische Kirche zu Sowjetzeiten als Möbellager gedient hatte. Der Putz an den Wänden war bis zu zwei Meter Höhe völlig weggekratzt. Später luden uns die Mitglieder des örtlichen Pfarrchores zum Essen ein, danach sangen wir gemeinsam. In ähnlicher Weise empfing uns der Chor in Czernowitz, wo unser nächstes Konzert stattfand. In Stanisławów sangen wir in der Stiftskirche, die die Sowjets in einen sogenannten „koncertnyj zal“ (Konzertsaal) verwandelt hatten. An der Stelle, wo sich früher ein Altar befand, gab es nun eine Bühne mit einem Flügel. Dies war das Schicksal der meisten sakralen Objekte in der Sowjetunion.

Die musikalische Begegnung zweier Religionen

Auf dem Weg nach Czernowitz bemerkten wir eine einsame orthodoxe Kirche auf einem Feld. Alle sprangen aus dem Bus und liefen auf sie zu. Dann fotografierten wir sie von außen und es stellte sich heraus, dass ihre Seitentür offen war. Im Inneren gab es einige Gemeindemitglieder, die die Kirche für Weihnachten herrichteten. Wir stellten uns vor dem Templon, dem allerheiligsten Bereich des byzantinischen Altarraums mit schöner Ikonostase auf und sangen das gregorianische Stück „Bogurodzica“ (Mutter Gottes) und eines der polnischen Weihnachtslieder. Die Einheimischen waren tief berührt und schlugen vor, dass wir über Weihnachten bei ihnen bleiben. Wir mussten jedoch weiterfahren.

In Stanisławów, jetzt Ivano-Frankivsk, begrüßten wir das neue Jahr 1998. Wir wurden im Polnischen Haus untergebracht. Meine Teilnahme an der Silvesterparty war aufgrund der Trauer um meine Oma sehr gedämpft. Die meisten von uns gingen am 1. Januar nicht vor sechs Uhr morgens ins Bett. Trotzdem sangen wir um elf Uhr bei einem Gottesdienst im Dom mit dem Domkirchenchor. Es war eine großartige Erfahrung.

Zuerst führten wir ein Weihnachtslied auf, dann der Domkirchenchor. Unsere polnischen Lieder, arrangiert von Zdzisław Maklakiewicz und Stanisław Wiechowicz, sind energievoll, im Rhythmus einer Mazur oder Polonaise. Die orthodoxen Stücke haben eine ganz andere Stimmung. Sie klingen ruhig, zart, vergeistigt. Ich lauschte ihnen mit Tränen in den Augen.

Die Menschen in Westeuropa stecken uns Polen, sowie Ukrainer, Tschechen, Slowaken und Russen unter ein gemeinsames Schild mit der Aufschrift „Slawen“. Aber wir unterscheiden uns in unserer Kultur sehr voneinander, und das zeigt sich besonders auch in der Musik.

Nach der Aufführung wandte ich mich an die Dirigentin des ukrainischen Chors, Joanna, und bot ihr an, die Noten auszutauschen. Ich nahm von Ihr ein Weihnachtslied, das mir am besten gefiel „Nowa radist“ (Die neue Freude). Dann lud uns der Domchor zum Mittagessen ein, bei dem uns unsere ukrainischen Freunde die Aussprache des Textes dieses Liedes erklärten.

Zufrieden und voller angenehmer Eindrücke kamen wir nach Krakau zurück. Eines der lustigsten Dinge war unsere „Enttäuschung“ über das Wetter. Wir stellten uns einen strengen Winter in der Ukraine vor, tiefen Schnee und bitteren Frost ringsum. Überrascht wurden wir vom Tauwetter und Temperaturen über Null. Wir hatten unnötigerweise zu viel warme Kleidung mitgenommen. Nur bei unseren Konzerten in den Kirchen war es richtig kalt.

Jolanta Łada-Zielke, 13. Dezember 2021, für
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Jolanta Łada-Zielke, 50, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anlässlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre  journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA.  Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.

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