„Ich weiß, wovon ich rede, habe ich doch selbst Schulmusik studiert und mein Referendariat schon anno 1991 nach einem halben Jahr abgebrochen. Bis heute habe ich diesen Schritt nicht bereut.“
von Kirsten Liese
Am Montag öffnen neben größeren Geschäften und Friseuren wieder die Schulen. Es wäre wohl allzu schön, wenn damit auch die mannigfachen Probleme, die das deutsche Bildungssystem schon lange vor dem Shutdown belasteten, hinweggefegt wären. Aber dem wird vermutlich nicht so sein. Wie auch? Eine Besinnung über all die Dinge, die im Argen liegen, hat in Zeiten von Corona nicht stattgefunden. Schon allein deswegen, weil es unter den Verantwortlichen an starken Persönlichkeiten fehlt und an einem politischen Willen der tiefgreifenden Veränderung.
Über kurz oder lang werden uns die alten Probleme, über die ich heute noch einmal sinnieren möchte, deshalb wieder einholen. Fangen wir mit dem triftigsten an: dem erschreckend niedrig gewordenen Bildungsstandard. Ob einfachste Bewerbungstests in Wirtschaft oder Verwaltung: Immer häufiger ließen sich in den vergangenen Jahren Klagen vernehmen, dass deutsche Abiturienten sich mit Mathematikaufgaben ebenso schwer tun wie mit der Rechtschreibung, wiewohl diese doch schon über Reformen vereinfacht wurde, oder mit Aufgaben, in denen es darum geht, einfache Zusammenhänge zu erfassen. Von Allgemeinbildung reden wir erst gar nicht.
Dass das Leistungsniveau stetig sank, hatte freilich auch damit zu tun, dass immer mehr Schüler an die Gymnasien und in akademische Berufe drängten. Die Realschule war nicht mehr gefragt, die Hauptschule zur „Restschule“ abgewertet und weitgehend abgeschafft. Das musste unweigerlich dazu führen, dass das Handwerk kontinuierlich mehr Mühe hatte, Auszubildende zu finden.
Aber auch die Bestandsaufnahme in den Klassenzimmern förderte in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres dramatische Zustände zutage: Studien berichteten von wachsender Gewalt und Mobbing, wobei Schüler ebenso als Betroffene zu Wort kamen wie Lehrer, von denen sich viele wegen Burnout in den Vorruhestand verabschiedeten oder längere Zeit krank meldeten.
Als wäre das alles nicht schon genug, galt es in jüngerer Zeit noch Integrationsprobleme mit Migranten und die umstrittene Inklusion zu stemmen. Wen wundert es da, dass der Mangel an Lehrern, insbesondere in dem Nebenfach Musik, zunahm und Fachunterricht an vielen Schulen nur noch mit Hilfe von Quereinsteigern angeboten werden konnte?
All diese Probleme hätte man freilich weitaus früher erkennen können. Es war ein langer stetiger Prozess. Ich weiß, wovon ich rede, habe ich doch selbst Schulmusik studiert und mein Referendariat schon anno 1991 nach einem halben Jahr abgebrochen. Bis heute habe ich diesen Schritt nicht bereut.
Ich erlebte Musik schon damals als ein besonders undankbares Fach. Dies vor allem deshalb, weil ich erleben musste, wie schlecht es bei den Schülern um Motivation, Disziplin und Respekt gegenüber Lehrpersonal bestellt war. Folglich sah ich mich permanent einem hohen Lärmpegel ausgesetzt und musste die meiste Zeit im Unterricht darauf verwenden, für Ruhe zu sorgen. Das gestaltete sich als ein schwerer Kraftakt, denn schon damals bedienten sich die Kinder Kraftausdrücken, dass einem die Ohren schlackerten.
Wiewohl mir damals von Tag zu Tag stärker klar wurde, dass ich an einem solchen Ort keine zehn Jahre durchhalten würde, zumal ich fürchtete, meine Stimme zu ruinieren, möchte ich dieses halbe Jahr an der Marie-Curie Schule, ein Berliner Gymnasium im bürgerlichen Stadtteil Wilmersdorf, nicht missen. Denn es geschah in dieser Phase, dass ich meinen langjährigen Freund und Kollegen Tilman Krause kennenlernte. Wir hatten denselben Mentor für das Fach Deutsch, mit Französisch hatte Tilman allerdings ein Zweitfach, das in der Schülerschaft höher geachtet wurde.
Jedenfalls war es ein schöner Zufall, der uns damals zusammen führte, da es sich bald herausstellte, dass uns viele Gemeinsamkeiten verbanden. Als libertine Bohemians entdeckten wir auf fast allen Ebenen des kulturellen Lebens ähnlich hohe Ansprüche, Ansichten und Vorlieben. Seelenverwandte wurden wir freilich auch als Wagnerianer und in unserer Faszination für die Sängerin Elisabeth Schwarzkopf.
Schon damals war Tilman journalistisch tätig, er schrieb als freier Autor für den „Tagesspiegel“. Mit dem angestrebten zweiten Staatsexamen wollte er seine Existenz absichern, Journalismus galt schon damals als brotlose Kunst, sofern es einem nicht gelang, eine Anstellung als Redakteur zu finden.
Doch als Seminarleiter Bedenken anmeldeten, dass sich das Referendariat mit einer nebenberuflichen journalistischen Tätigkeit vereinbaren lassen würde, war für ihn klar, welcher Beruf für ihn Vorrang haben würde. Gegenseitig stärkten wir uns in unserer Entscheidung, das zweite Staatsexamen sausen zu lassen. Kaum hatte Tilman seine Kündigung bekannt gegeben, zog ich nach. Nur dass ich über einige Umwege erst einige Jahre später zum Journalismus kommen sollte, als Tilman sich bereits als Literaturredakteur etabliert hatte. Ohne ihn hätte ich meinen Traumberuf womöglich nie verwirklicht.
Jedenfalls werde ich nie vergessen, wie mich die anderen Referendare in meinem Musikseminar neidvoll verabschiedeten. Sie hätten allzu gerne auch einen anderen Weg eingeschlagen, blieben aber in Ermangelung von Alternativen.
Unter den Kommilitonen, mit denen ich an der Berliner Hochschule für Künste Schulmusik studiert hatte, sah das schon ganz anders aus. In meinem Jahrgang entschieden sich von zehn Studenten am Ende nur zwei für den Lehrberuf. Die anderen wurden Instrumentallehrer an Musikschulen, sattelten noch eine Gesangskarriere oder ein Studium für kulturelles Management auf die Schulmusik drauf oder schlugen eine wissenschaftliche Karriere ein. Diese Tendenzen setzten sich in den Folgejahren immer weiter so fort.
Meine Ausbilder schien das nicht zu beunruhigen. Sie hatten keine Fragen an eine Aussteigerin wie mich, machten sich keine Gedanken über die Umstände, die mich vergrault haben könnten, beharrten vielmehr stur auf ihrer Überzeugung, wir müssten nur einen spannenden Unterricht anbieten, dann würden Schüler schon interessiert mitarbeiten.
Erst als sich der Mangel an Fachlehrern dramatisch zuspitzte, so dass immer mehr Schulen auf Quereinsteiger ausweichen mussten, fingen die Medien an, nach den Ursachen zu forschen. Ihre Analysen erscheinen mir jedoch nicht umfassend genug. Meist reduzierten sich die Erklärungen auf den Teufelskreis, der damit anfängt, dass, wer selbst keine Musikerziehung genossen hat, keine Voraussetzung für diesen Beruf mitbringt. In Fachzeitschriften erhoben sich zudem Stimmen, die die Aufnahmeprüfungen für die Studiengänge als zu elitär kritisierten, den Zugang erleichtern wollten und Zweifel an der klassischen Musikausbildung anmeldeten. Jazz, Rock und Pop, ohnehin schon in meiner Kinderzeit ein fester Bestandteil in Lehrplänen, wollten sie weitaus mehr Gewicht geben, dies schon in der Ausbildung.
Mag sein, dass einige, die so denken, sich darauf verlassen, dass die mannigfachen Education-Projekte von Sinfonieorchestern und Opernhäusern die Klassik schon hinreichend abdecken. Aber ehrlich gesagt, habe ich noch nicht beobachtet, dass sich die Altersstrukturen trotz dieser sehr gut gemeinten Projekte, die ich keineswegs kleinreden will, wesentlich geändert hätten. In den Konzerten, die ich besuche, gehören meinen Wahrnehmungen nach immer noch die meisten Zuschauer zur Generation 50 Plus.
Von Lehrkräften, die Schülern brutal ihr Schlüsselbund entgegen schleuderten, las ich höchst erstaunt erst kürzlich in diesem Blog.
https://klassik-begeistert.de/hauters-hauspost-4-klassik-begeistert-de/.
Natürlich gibt es auch unfähige und schlechte Lehrer, und womöglich wäre aus mir so jemand geworden. Aber speziell im Musikunterricht hatten es selbst schon zu meinen eigenen Schulzeiten die meisten Lehrkräfte sehr schwer. Das Ausprobieren neuer Konzepte und Methoden half da ebenso wenig weiter wie das Bemühen um einen lebendigen Unterricht unter Einsatz von Instrumenten. Die Männer mit ihren kräftigen Stimmen konnten sich noch eher durchsetzen. Viele weibliche Lehrkräfte arrangierten sich irgendwann resigniert mit der unbefriedigenden Situation und den Idealen der antiautoritären Erziehung, bisweilen flossen Tränen.
Für die Schlüsselbund-Methode, die offenbar vielen jungen Menschen die Freude am Singen ausgetrieben hat, habe ich selbstredend kein Verständnis. Ebenso wenig für Lehrende, die Schüler politisch indoktrinieren, ihnen Meinungen vorgeben, statt sie zu kritisch denkenden Menschen zu erziehen, oder zur Teilnahme an Demonstrationen verpflichten.
Gleichwohl gehe ich davon aus, dass für einen erfolgreichen Unterricht Disziplin und respektvolle zwischenmenschliche Umgangsformen unumgänglich sind. Wenn sich Mobbing und Gewalt weiterhin an den Schulen durchsetzt, sehe ich für die Zukunft schwarz. Die Kuschelpädagogik wird es nicht richten.
Aber halt: Hat nicht Corona gerade dazu geführt, dass wir uns alle wieder mehr in Disziplin üben mussten? Und sollen die Klassen jetzt nicht auch kleiner werden, damit Schüler Abstand halten können? Vielleicht bewirkt der Virus ja sogar, dass die maroden sanitären Anlagen in vielen Schulgebäuden endlich saniert werden, um die Hygiene zu verbessern. Das wäre ja schon immerhin etwas.
Kirsten Liese, 1. Mai 2020, für
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