Lieses Klassikwelt 58: Walter Berry

Lieses Klassikwelt 58: Walter Berry

Ich ringe gerade mit Fassung. Ein sehr netter Mann, der meinen alten Eltern einmal pro Woche im Haushalt geholfen hat, ist vor wenigen Stunden völlig unerwartet umgefallen und war weniger später tot. Feuerwehr und Notarzt konnten ihn nicht wiederbeleben. Er starb mit gerade einmal 65 Jahren an einem Herzinfarkt. Mich erinnert der Vorfall daran, wie schnell mitunter das Leben vorbei ist. Einfach so.

von Kirsten Liese

Tatsächlich starb auch der Bassbariton Walter Berry, dem meine heutige Klassikwelt gewidmet ist, schon ziemlich früh an einem Herzinfarkt am 27. Oktober 2000 im Alter von nur 71 Jahren.

In Jugendzeiten zählte ich ihn zu den Baritonen und bin nun erstaunt, dass er sich selbst in mehreren Interviews so eindeutig als Bassbariton einstufte, wo er doch viele Partien sang, die auch zum Repertoire seiner Kollegen Dietrich Fischer-Dieskau und Hermann Prey zählten, denke ich an den Figaro, Guglielmo (Così fan tutte), Wozzeck, Falstaff oder Barak (Die Frau ohne Schatten). In der Tiefe aber hatte Berry eben doch noch mehr Volumen und Spielraum, weshalb er eben auch den Baron Ochs im Rosenkavalier und den Leporello singen konnte.

Der verschlagene Diener war dem gebürtigen Wiener auf den Leib geschrieben. Er besaß den nötigen Charme und Witz für diesen Schlawiner und setzte Maßstäbe mit seiner Interpretation der Registerarie, die meiner Meinung nach nur der brillante Komiker Otto Edelmann in vergleichbar grandioser Schelmenhaftigkeit herüberbringen konnte.

Aber auch im Lyrischen hatte Berry, seine Stimme schlank durch alle Register führend, unglaublich starke Momente: Besonders angerührt hat er mich als Färber Barak, den er erfreulicherweise gleich mehrfach aufgenommen hat, zweimal zusammen mit seiner ersten Ehefrau Christa Ludwig als Färberin unter Böhm und Karajan, und unter Böhm auch mit Birgit Nilsson als Baraks Weib.

Und nicht zu vergessen sein Wozzeck, den Kritiker und auch der Sänger selbst als seine bedeutendste Rolle bewerteten. Der namhafte Wiener Musikjournalist Karl Löbl erklärte Berry sogar zum „besten Wozzeck der Nachkriegszeit.“ Allein schon vom Hören ist die große Szene im dritten Akt, in der Wozzeck, nachdem er Marie mit einem Messer getötet hat und sich seiner Tat bewusst wird, unglaublich aufwühlend. Berry selbst kommentierte seine Vorliebe zu der Rolle in Interviews mit einem lakonisch trockenen Humor: „Da brauche ich nicht zum Psychiater gehen, lebe meine ganzen Komplexe aus und bekomme noch Geld dafür“.

Überhaupt erzählte der Sänger gerne lustige Anekdoten, gewürzt mit seinem ausgesprochen Wiener Dialekt. Wenn er etwa von den anstrengenden Proben zu seinem ersten „Wozzeck“ erzählt, den Karl Böhm ihm bereits 1955 an der Wiener Staatsoper antrug.

Sieben Monate habe er gebraucht, um diese Partie mit der für damalige Verhältnisse als sehr modern empfundenen Tonsprache einzustudieren, und trotzdem kam er bei den Orchesterproben mit dem „strengen Karl Böhm“ am Pult ins Schwitzen. „Entschuldigen Sie, ich habe mich geirrt“, entschuldigte sich der Sänger für einen verspäteten Einsatz. Darauf Böhm: „Na, tun Sie sich net irren, schauen Sie auf mich, ich geb‘ Ihnen ja den Einsatz.“ Als zwei Minuten später erneut eine Stelle falsch geriet und Berry daran erinnerte, Böhm wolle ihm doch den Einsatz geben, sagte der: „Ich kann Ihnen doch nicht jeden Einsatz geben.“

Besonders bemerkenswert erscheint mir eine Episode im Zusammenhang mit Berrys etwas missglückter Karriere im Wagnerfach. Den Wotan, den Karajan ihm anlässlich seiner ersten Osterfestspiele 1967 aufs Auge drückte, erwies sich nicht als die geeignete Partie. Aber den Hans Sachs hätte er sehr gerne in sein Repertoire aufgenommen. Doch als er sie in Bayreuth übernehmen durfte, kam es zu einem fatalen Missverständnis. Und das nach einer für Berry sehr erfolgreichen, beglückenden Generalprobe. Er erinnerte sich noch genau, wie Karl Böhm auf ihn zukam und lobend sagte, er würde Bayreuth ein „neues Sachs-Gefühl“ geben, worauf er, Berry, scherzhaft erwiderte: „Du lieber Heiland, und übermorgen schon wieder.“ Am nächsten Tag wurde Berry kurzerhand von Festspielchef Wolfgang Wagner darüber in Kenntnis gesetzt, dass Böhm die Äußerung so interpretiert hatte, er könne den Sachs nicht nochmal singen. Und offenbar auch ohne noch einmal Rücksprache zu halten, verpflichtete Böhm kurzerhand Theo Adam als Berrys Ersatz. Diese Entscheidung ließ sich dann wohl nicht mehr revidieren. Wolfgang Wagner bot Berry zwar fünf Vorstellungen im Jahr darauf unter einem anderen Dirigenten an, aber der Schock saß bei Berry so tief, dass er dann nie wieder den Sachs singen wollte.

Es wäre vielleicht seine zentrale Rolle geworden, meinte er selbst kurz vor seinem Tod, und ich kann diese Annahme unterstreichen, nachdem ich eine Aufnahme vom „Flieder“-Monolog mit ihm hörte. Berry singt ihn ganz wunderbar, mit schöner Stimmführung und zärtlichem Ausdruck, besser noch als Adam, dessen lyrische Gesänge in reiferen Jahren bekanntlich immer unter einem unschönen, unkontrollierten Vibrato litten.

Schon bizarr diese Geschichte. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass man so ein Späßchen nicht von richtigem Ernst unterscheiden können sollte. Und wäre es nicht so, dass Berry – wie er selbst berichtete – nach diesem Schock-Erlebnis noch weiter mit Böhm zusammengearbeitet hätte, würde ich fast annehmen, er sei damals das Opfer einer Intrige geworden.

Von Christa Ludwig, die Berry mittlerweile schon 20 Jahre überlebt hat, konnte ich zumindest noch ein paar Auskünfte zum Scheitern ihrer Ehe mit Berry erfahren. Es waren wohl die üblichen Konflikte einer Künstlerehe. „Wie singen Sie sich ein, wenn Sie zusammen auftreten?“ Ludwig und Berry bewohnten zur Problemlösung zuletzt zwei Häuser auf einem Grundstück, aber selbst das habe nichts genutzt, weil sich auch Lampenfieber vor einem Auftritt von dem einen auf den anderen übertrug. Die gemeinsamen vielen Auftritte wiederum waren notwendig, um sich – stark vereinnahmt vom Beruf und vielen Reisen – überhaupt noch nahe zu sein. Das alles nagt freilich an einer Ehe.

In dem Sänger Walter Berry habe ich bei alledem inzwischen einen grandiosen Liedinterpreten entdeckt. Er selbst erinnerte sich besonders gerne an einen Liederabend, den er und Christa mit Leonard Bernstein als ihrem Klavierbegleiter über Nacht aus dem Boden stampften, als sie einmal Fischer-Dieskau ersetzen mussten, der sich den Arm gebrochen hatte. Gustav Mahlers Knaben Wunderhorn-Lieder standen da auf dem Programm und Bernstein spielte den Klavierpart tatsächlich mit solcher Dramatik wie ein Orchester. Nicht weniger stark aber auch Berrys Interpretationen von Schubert-Liedern, aufgenommen 1966 beim RIAS-Berlin. Die sind Fischer-Dieskaus Einspielungen durchaus ebenbürtig. Schade, dass sie bislang nicht veröffentlich wurden. Aber was nicht ist, kann vielleicht noch werden.

Am 29. Oktober können Sie übrigens in meiner Sendung Historische Aufnahmen im Deutschlandfunk ab 22 Uhr Einspielungen mit Walter Berry hören.

Kirsten Liese, 23. Oktober 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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© Kirsten Liese

Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz,  Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .

3 Gedanken zu „Lieses Klassikwelt 58: Walter Berry“

  1. Liebe Frau Liese!

    Ich habe Ihre wunderbaren Zeilen zum Todestag von Walter Berry gelesen. Unfassbar, dass schon wieder 20 Jahre seit diesem großen Verlust für die Musikwelt vergangen sind!

    Ich schreibe Ihnen als Sänger und Autor, der eine kurze Zeitspanne auch den Unterricht von Walter Berry genießen durfte und seinerzeit durch seinen künstlerisch-pädagogischen Weitblick auch seine großzügige Unterstützung fand.

    Auch die Gesangspädagogik ist ihm immer besonders am Herzen gelegen, weshalb ich – durch seine Empfehlung bestärkt – selbst auch den pädagogischen Weg eingeschlagen habe.

    Als ich vor Kurzem die 3sat-Dokumentation „Oper – das knallharte Geschäft“ von Filmautor Stefan Braunshausen gesehen habe, in der die große Problematik im gesangspädagogischen Ausbildungssystem im deutschen Sprachraum offen angesprochen wurde, habe ich mich gefragt: was er wohl dazu sagen würde?

    Walter Berry war auch als Gesangspädagoge eine absolute Größe, einer der ganz wenigen Sänger von Weltruf, der abseits der üblichen „Interpretationskurse“ auch imstande war, technisch hilfreiche und konkrete Anweisungen zu geben, die nachvollziehbar und vor allem auch umsetzbar waren. Eine Qualität, die man heute immer mehr vermisst, weshalb viele unserer jungen Talente schon während ihrer Ausbildungszeit große Probleme bekommen!

    Ich denke hier mit Freude an einen Meisterkurs in Gutenstein (Österreich) zurück, wo wir enthusiastisch gearbeitet und unglaublich viel gelacht haben! Ich denke zurück an einen ganz Großen seiner Zunft, der mich – fern aller Eitelkeiten, Star-Allüren und ohne irgendwelche Berührungsängste (auch eine Qualität, die man heutzutage schon sehr selten findet!) – spontan mit einer Empfehlung zu meinem 1. Fachbuch »Stütze!!? – Atemtechnik & Atemstütze für Bläser, Sänger und Sprecher« unter“stützt“ hat. Ich bin damals zu 100 % von ihm bestätigt worden; in meiner Arbeit als junger Sänger und auch als „frischgebackener“ Autor!

    Was war das für eine Freude, was war das nur für ein Mensch, völlig „normal“ geblieben, trotz all seiner Erfolge! Eben einer der ganz, ganz Großen! Ich vermisse ihn wirklich sehr!!!

    Vielen Dank für Ihre Erinnerungen an einen großen Sänger, Pädagogen, aber vor allem an einen großartigen Menschen!

    Herzliche Grüße, Ihr Robert Kreutzer
    http://www.robertkreutzer.at

  2. Interessant die Geschichte mit Sachs in Bayreuth. Aus Sicht von Wolfgang Wagner war Berry wohl etwas labil, und er hat schnell den gut geordneten Adam geholt. Der wiederum schreibt in seinem Buch, dass er erst für die zweite Hälfte der „Meistersinger“ nach Bayreuth kommen sollte. Man holte ihn aus dem Urlaub an der Ostsee – und das stellte die Visumbeschaffer vor echte Probleme.
    Aber Böhm hat mit Berry – oder andersrum – seinen Frieden gemacht… in dessen letzter Einspielung der 9. Beethovens.

    „Klingsor“

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