von Kirsten Liese
Foto: Riccardo Muti (Dirigent) © SF / Marco Borrelli
Nun erleben wir also doch noch einen zweiten Lockdown oder „Schockdown“, wie die B.Z. titelte. Vorerst für vier Wochen, aber wer weiß schon, wie es weitergeht. Lange braucht es ohnehin nicht, um den schon angeschlagenen Opernhäusern, Theatern und Kinos den Todesstoß zu versetzen. Seit vielen Monaten ist allerorten nur wenig Publikum zugelassen, mithin konnten nicht die Einnahmen erwirtschaftet werden, die es braucht, um die Betriebe langfristig zu sichern.
Der Ernst der Lage wird vielen Betroffenen der Branche wohl jetzt erst so richtig klar. Brav und folgsam haben sie die Corona-Auflagen befolgt, die ihnen auferlegt wurden, ihre Kreativität in umfassende sogenannte Hygienekonzepte investiert, wegen Abstandsregeln ganze Sitzreihen abgesperrt, Desinfektionsständer aufgebaut, zur Kontaktnachverfolgung Formulare mit Stiften ausgelegt, ihrem Publikum Masken verordnet, zunächst nur bis zum Erreichen das Sitzplatzes, dann sogar für die gesamten Vorführungen. Das Publikum hat ohne das geringste Aufmucken mitgespielt, bereitwillig Maske getragen, sogar für eine so lange Aufführung wie „Die Walküre“ an der Deutschen Oper Berlin. Nicht minder tapfer arrangierten sich Künstlerinnen und Künstler mit dem traurigen Anblick von halbleeren oder noch leereren Räumen und trösteten sich in Demut und Bescheidenheit damit, dass es überhaupt irgendwie weitergeht.
Indes: Eine Wertschätzung für dieses Engagement seitens der Politik blieb aus, und das, obwohl die Hygienekonzepte aufgingen, so dass sich kaum jemand infizierte. Bei den gesamten Salzburger Festspielen wurde nur ein einziger Infektionsfall bekannt, und der ereignete sich in der Verwaltung. Was die Kulturschaffenden stattdessen erhielten, war, salopp gesagt, ein Fußtritt. Was will man indes auch von einer Kanzlerin erwarten, die schon lange androhte, „brachial durchzugreifen“ und die „Zügel anzuziehen“?
Ob vielleicht das Vertrauen in die Politik, die lange Geduld und das Verständnis für die Auflagen genau das Problem waren? Bekanntlich bewirkt Rebellion mehr als Unterwerfung.
Erinnert sei an Gerichte, die schon mehrfach unverhältnismäßige oder gar widrige Corona-Bestimmungen kassiert haben. Stichwort: Versammlungsverbot, Beherbergungsverbot, in einigen Bundesländern auch Maskenpflicht an Schulen. Die Gewaltenteilung zumindest scheint noch einigermaßen zu funktionieren. Wo allerdings kein Kläger ist, gibt es auch keinen Richter.
Vor allem in Bayern formiert sich Protest, wo es schon kurz vor dem erneuten „Lockdown“ ans Eingemachte ging, sollten doch sämtliche Theater nur noch für 50 Zuschauer spielen dürfen, was freilich einen wirtschaftlichen Ruin bedeutet. Entsprechend haben sich die Intendanten der bayerischen Staatstheater zusammengetan und Protestbriefe geschrieben. „Es reicht!“ lautete eine Headline in der Münchner Abendzeitung.
Auf Seiten der Künstler ist es einmal mehr Riccardo Muti, der initiativ wurde. Kurz nachdem bekannt wurde, dass in Italien sämtliche Theater und Kinos geschlossen werden sollen, schrieb er einen öffentlichen Brandbrief an Premier Conte, in dem er zum Ausdruck bringt, dass kulturelle Nahrung ebenso lebenswichtig ist wie die leibliche Ernährung und dazu aufruft, die Theater unverzüglich wieder zu öffnen.
Der Maestro hatte sich schon in den Wochen und Monaten davor ordentlich ins Zeug gelegt, konzertierte – nach sämtlichen abgesagten Verpflichtungen in Chicago – mit seinem Luigi Cherubini Orchester an den unterschiedlichsten Orten in ganz Italien. Sein letztes Konzert in Bologna in einem tristen Sportpalast mit Sitzplätzen ohne jegliche Arm- oder Rückenlehne habe ich noch miterleben dürfen. Da hielt er am Ende eine lange, sorgenvolle Rede, in der er darauf hinwies, dass so viele Theater verwaist seien, es auch kaum mehr Orchester gäbe. Nach dem Konzert lief ich dem Maestro zufällig noch über den Weg. Der große Erfolg des Konzerts hatte ihn wenig aufmuntern können, er wirkte deprimiert und traurig. Was der wunderbare Musiker jetzt gerade seelisch durchmacht, will ich mir gar nicht ausmalen.
Dass Premier Conte sich angesichts seines Aufrufes ungerührt zeigen würde, war zu erwarten. Beim Konzert in Bologna war niemand von der Politik zugegen.
Mittlerweile sind in Italien und auch in München viele Kulturschaffende auf die Straße gegangen. Aber das reicht noch nicht. Der Protest muss lauter werden, viel lauter. Und er muss in den großen Medien ankommen. Deshalb ende ich meine heutige Klassikwelt mit einem Aufruf an alle namhaften, berühmten Künstlerinnen und Künstler: Vernetzt Euch, schaltet die Justiz ein, werdet unbequem!
Kirsten Liese, 30. Oktober 2020, für
klassik-beigeistert.de und klassik-begeistert.at
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Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz, Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .
Ich sehe das genauso, wie die Autorin und bin erschüttert, dass beispielsweise in Köln, wo ja schon seit Wochen der Kartenkauf wieder ausgesetzt ist, nun alles wieder komplett geschlossen wird. Meines Wissens nach gab es bisher auch keine Ansteckung im Kulturwesen – ein Zeichen doch, dass die Hygienekonzepte funktioniert haben, sollte man meinen…
Warum es jetzt erneut zum totalen Aus aller Kulturveranstaltungen in einem ohnehin schon kulturell verarmten Jahr kommt, ist mir ein Rätsel und Ärgernis!
Grüße,
Daniel Janz
Erstaunt hat mich vor allem, dass sich bisher unsere Konzert- und Opernhäuser wie die Lämmer zur Schlachtbank haben führen lassen, obwohl klar erkennbar war, dass sie im Infektionsgeschehen keine Rolle spielen. Dachte man vielleicht, die politischen Parteien wüssten ohnehin, wie wichtig die Kunst für die seelische und körperliche Gesundheit ist?
Gepfiffen!!!
Hans Gerd Kuxdorf
Hallo, Hans Gerd!
Ich mache gerade Biografiearbeit und arbeite dabei u.a. meine Chorgeschichte auf. Dabei google ich auch den einen oder anderen Wegbegleiter.
Vielleicht bist Du ja hier erreichbar?
Beste Grüße Axel (Iseke), Karthäuserkantorei Kölner Kammerchor
Um der Wahrheit die Ehre zu geben: ich finde es keineswegs bedauerlich, wenn Kinos und vor allem Opernhäuser schließen.
Das Angebot an Kinofilmen ist ziemlich langweilig geworden: entweder die üblichen Hollywood-CGI-Blockbuster, oder aber Independent-Filme, die jedoch in zunehmendem Maße pornografischer werden, da die Filmemacher ihre (selbstverständlich absolut wichtige!) künstlerische Freiheit und Unabhängigkeit gerne dafür verwenden, „alles“ zu zeigen und quasi Pornos mit etwas mehr Handlung zu drehen. So sehr ich es begrüße, dass diese Filmemacher ihre Kunst nicht nach den Maßstäben irgendwelcher Marketing-Experten, Zensoren oder Publikumsgeschmäcker machen, zeigen Filme wie „9 Songs“ oder auch der so hochgelobte „Nymphomaniac“ eine Entwicklung des Independent-Films, die ich – sehr wohlwollend ausgedrückt – kritisch sehe.
Kinos finde ich persönlich nur dann interessant, wenn es sich um Kinopaläste handelt, in denen – ähnlich den großen Kinovorstellungen in den 1950er Jahren – sogar Programmhefte verkauft werden. So etwas gibt es aber kaum noch; man hat die Wahl zwischen den sterilen Multiplexen, oder zwar charmanteren, technisch jedoch gnadenlos unterlegenen kleineren Kinos, die mit einem ordentlichen Heimkino nicht mehr mithalten können.
Apropos Heimkino: Heimkinos werden technisch immer besser und leistbarer, und man hat die Möglichkeit, den Film auf Deutsch oder im Originalton zu sehen – ganz ohne störende, sich unterhaltende oder auf ihren leuchtenden Handys spielende Zuseher.
Was die Opernhäuser betrifft: ein Großteil dieser Häuser spielt Werke von Mozart und Co. auf völlig falschen Instrumenten und beraubt sie ihrer so wichtigen Klänge und Eigenschaften. Statt zu versuchen, historisch informiert zu spielen und so ihren ursprünglichen Reichtum wieder erlebbar zu machen, folgt man lediglich den Normen und Ritualen des modernen Konzertbetriebs. Die vom Komponisten beabsichtigten Inhalte und Aussagen werden verfälscht und weichgespült.
Es mag sein, dass vielen Zuhörern solche Dinge egal sind, oder sie diese Klänge bevorzugen – meine Trauer darüber, dass diese Orchester zumindest zeitweise verstummen, hält sich in Grenzen.
Merkatz
Sie scheinen in der heutigen Zeit an sehr wenig Freude am kulturellen Leben zu haben. Das tut mir sehr leid für Sie!
Ich bin durchaus auch eine Nostalgikerin und gehe nicht selten frustriert aus einer Premiere. Aber ich finde hier und da doch immer noch Produktionen oder Konzerte, die mich begeistern.
Kirsten Liese, Kulturjournalistin, Berlin
Autorin für klassik-begeistert.de
«Sie scheinen in der heutigen Zeit an sehr wenig Freude am kulturellen Leben zu haben. Das tut mir sehr leid für Sie!»
Ich hoffe, dass mein Beitrag nicht als nostalgischer Rückblick auf frühere Jahrzehnte missverstanden wurde, denn das lag nicht in meiner Absicht.
Eigentlich ist das Gegenteil der Fall: ich bin froh in einer Zeit zu leben, in der die Anzahl der HIP-Orchester (und HIP-Aufnahmen) stetig zunimmt, und in der sowohl Opern- als auch Filmregisseure mehr Freiheiten haben. In der z. B. auch verstärkt darauf geachtet wird, keine überholten Frauenbilder zu transportieren.
Ich besuche nach wie vor Opernvorstellungen, selbstverständlich unter der Voraussetzung, dass auf period instruments gespielt wird. Diesen Monat hätte z. B. im Theater an der Wien eine neue „Figaro“-Produktion unter der Regie des Kabarettisten Alfred Dorfer auf dem Programm gestanden. Diese Inszenierung sowie die Musik des Concentus Musicus Wien wollte ich gerne live erleben, coronabedingt wurden die Vorstellungen leider abgesagt.
NN