von Kirsten Liese
Der Lohengrin war seinen eigenen Worten nach seine Lieblingsfigur, aber neben ausgewählten Heldentenor-Partien von Richard Wagner blieb James King vor allem als grandioser Interpret der gefürchteten Tenorrollen in den Opern von Richard Strauss in Erinnerung. Der Amerikaner feiert in diesem Jahr gleich ein doppeltes Jubiläum: Am 22. Mai wäre er 95 Jahre alt geworden, am 20. November jährt sich sein Todestag zum 15. Mal.
Ich selbst habe den Sohn eines Sheriffs, der 1925 in Dodge City in Kansas geboren wurde, leider nur wenige Male auf der Bühne gesehen, dafür aber zumindest in einer seiner bedeutsamsten Partien – als Kaiser in der Frau ohne Schatten in der Deutschen Oper Berlin. An jenem Haus also, an dem die Karriere des Cowboys aus dem Wilden Westen 1962 begann, kurz nachdem das Westberliner Opernhaus feierlich eröffnet worden war.
Mit Kings ersten Auftritten als Kaiser verbindet sich zugleich ein bedeutsames Kapitel der Aufführungsgeschichte: Noch Anfang der 1960er-Jahre erschien Die Frau ohne Schatten selten auf Spielplänen, wohl auch angesichts der kryptischen, märchenhaften Handlung. Das änderte sich, als Karl Böhm das 1919 uraufgeführte Werk an vielen renommierten Bühnen in Idealbesetzungen herausbrachte. Leonie Rysanek und James King zählten zu den festen Größen in Böhms Ensemble und sangen diese Rollen Hunderte von Malen, etwa auch 1967 in der neu eröffneten New Yorker Metropolitan Opera im Lincoln Center, 1977 bei den Salzburger Festspielen und in der Wiener Staatsoper. Beim Wiederhören insbesondere der großen Falkenarie war ich ganz entzückt, niemand hat sie im Lyrischen wie im Dramatischen gleichermaßen so bewegend gestaltet wie er.
Eine persönliche Begegnung mit dem 2005 in Florida verstorbenen Sänger hat sich für mich leider nicht ergeben. Aber dank seiner Autobiografie, die 2000 unter dem Titel Nun sollt ihr mich befragen erschien, kann ich zumindest noch einiges über ihn erfahren.
Ansonsten sind allerlei falsche Angaben über den Sänger im Umlauf. Dies betrifft allen voran den Bühnenabschied von James King: Allein vier Quellen (darunter die FAZ) vermeldeten in ihrem Nachruf, Jimmy hätte mit Anfang 70 als Otello in Wiesbaden seinen Bühnenabschied genommen. Eine andere Publikation gab für den letzten Auftritt den Fidelio an. In Wirklichkeit war es der Aegisth in Strauss‘ Elektra. Einzig bei Wikipedia steht das richtig, dafür wurde dort sein Debüt falsch angegeben. Kings erste Rolle in Berlin war nicht der Bacchus in Ariadne auf Naxos, sondern der Sänger im Rosenkavalier.
Schier begeistert bin ich von Kings sängerischen Leistungen. Seine Stimme verband tatsächlich alles, was die Tenorrollen bei Wagner und Strauss erfordern: Lyrische Schönheit, profunde Mittellage und Tiefe, strahlende Höhe, Geschmeidigkeit, großes Volumen und Schmelz in italienischen Partien wie Calaf (Turandot), Cavaradossi (Tosca), Canio (Bajazzo) oder Otello.
Den Otello hat er übrigens, soweit ich das aufgrund von Tonkonserven beurteilen kann, sensationell gut gesungen. Dies auch seitens der Gestaltung. In seiner großen Szene „Dio! Mi potevi scagliar tutti i mali!“ im dritten Akt gerät er furchterregend außer sich. Aber da vernimmt man nicht nur den in seiner Wut fast kollabierenden Tragöden, sondern auch den zutiefst verzweifelten. Dazu passt es, was King in seinen Memoiren über den Otello schreibt, was sich all jene hinter die Ohren schreiben sollten, die behaupten, es handle sich um eine rassistische Oper: Dass nämlich Otello im Gegensatz zu allen „Mordgesellen in den gängigen Fernsehfilmen“ Reue zeigt: „Das war es, was ich an Otello so schätzen lernte.“
Höre ich nochmal in die legendäre, 1965 aufgenommene zyklische Gesamtaufnahme des Rings unter Solti hinein, so muss ich bekennen, dass ich nie einen besseren Siegmund gehört habe. Da unterschreibe ich jeden Satz von Jens Malte Fischer, der in seinem Buch „Große Stimmen“ urteilt: „Hier singt er muskulös und sehnig zugleich, wie angegossen sitzt diese Rolle auf seiner Stimme. Er wird nie plump kraftmeierisch, hat aber dennoch genug Saft für die entscheidenden Töne.“ Ansonsten finde ich Fischers Beitrag über King in seiner völlig unangemessenen negativen Beurteilung ziemlich vermessen und arrogant. Ich verstehe gar nicht, wie er dazu kommt.
Im Gegenteil: King hatte abgesehen von seinen stimmlichen Qualitäten den Vorteil, dass er wie René Kollo oder Jonas Kaufmann auch dank seiner attraktiven edlen Erscheinung mit seinen Figuren harmonierte. Und er kannte seine Grenzen. Von den kräftezehrenden Partien Tristan, Tannhäuser und Siegfried ließ er weise die Finger. Und konnte vermutlich deshalb noch mit über 70 Konzerte und Liederabende geben.
Das war vielleicht der gerechte Ausgleich dafür, dass seine Weltkarriere erst begann, als King schon 36 war. Bedingt durch seinen Militärdienst im Zweiten Weltkrieg konnte er seine Stimme erst später ausbilden lassen, zunächst allerdings im falschen Stimmfach als Bariton. Erst einige Jahre später, als er schon als Lehrer für Stimmbildung und Chordirigieren in Kentucky tätig war und ihm nach einigen Konzerten die Tiefe abhandenkam, stellte sich die falsche fachliche Einstufung heraus.
Wenn ich mir das Foto von Jimmy mit Cowboyhut ansehe, das die Wiener Fotografin Lillian Fayer von ihm gemacht hat, würde ich nicht unbedingt annehmen, dass dieser Mann bei alledem und ganz entgegen dem Klischee, Tenöre seien meist Schmalspurindianer, Philosophie studiert hätte.
Bei alledem habe ich ihn in seinen Memoiren als eine Persönlichkeit mit kritischen Ansichten schätzen gelernt. Dass man in zahlreichen amerikanischen Städten und Dörfern „überhaupt nicht einen Ton von klassischer Musik hört, nie einen Beethoven, nie einen Bach, nie was von Wagner oder Verdi, nur Schlager Tag und Nacht“ ist das eine. Und das hat sich vermutlich bis heute kaum geändert.
Aber auch was die unsinnigen Entwicklungen im Regietheater anlangt, spricht King mir von der Seele: „Die Bedeutung eines Meisterwerks liegt weder darin, was es uns heute etwas zu sagen hat, noch darin, wie es seine Zeitgenossen auffassten, obwohl dieser letztere Aspekt ein gar nicht so schlechter Anhaltspunkt für seine Interpretation ist“, meint King. Und weiter: Ein Kunstwerk kann seine Entstehungszeit nur überdauern, wenn es eine universelle Aussage enthält, die für alle Zeiten gleichermaßen gültig ist.“ Er berichtet dann von einer Produktion der Walküre in Frankreich, in der ein Regisseur auf die Idee kam, Wotan bei seinem Abschied im dritten Akt läppisch mit einem Feuerzeug eine Kerze entzünden zu lassen. King stellte den Regisseur zur Rede und fragte ihn, was er sich von der „Trivialisierung eines der bedeutungsvollsten und ergreifendsten Momente in der gesamten Opernliteratur erwarte“. Sein Gegenüber erwiderte, er wolle mit der trivialen Geburtstagskerze zum Ausdruck bringen, dass „solche Szenen für den Zuschauer von heute nicht mehr passten und deshalb ins Lächerliche gezogen werden müssten.“
Souverän nahm King diese grundlegende Meinungsverschiedenheit zum Anlass, von dem Vertrag zurückzutreten, da es um Wagners Walküre ging und nicht „um die Sicht eines wichtigtuerischen Ignoranten.“ Und wünschte sich, dass mehr prominente Kollegen die Chance ergreifen, Produktionen solcher Art abzulehnen.
Würde er noch leben, würde es ihn vielleicht freuen zu erfahren, dass unter den heutigen Tenören Piotr Beczala ähnlich denkt. Um herauszufinden, ob er auf einen Regisseur setzen kann oder besser Abstand hält, fragt er ihn erst einmal, ob er das Stück, um das es geht, mag.
Zu den besten Aufnahmen, die uns James King neben den genannten hinterlassen hat, zählt die Arie „La fleur que tu m’avais jetée“ aus Carmen. Sie tönt ungemein sinnlich, zärtlich und betörend schön. Am 20. November 2005 starb er in Naples, Florida.
Kirsten Liese, 13. November 2020, für
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Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz, Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .