Sinniere ich weiter über Birgit Nilssons Gedanken, kommen mir Weisheiten der Marschallin aus dem Rosenkavalier in den Sinn: „Leicht muss man sein: mit leichtem Herz und leichten Händen, halten und nehmen, halten und lassen.“ Und wenn man das „lassen kann“, sagt Christa Ludwig, die sich diese Sätze zum Lebensmotto erhoben hat, „hat man’s leichter“.
von Kirsten Liese
Foto: Edita Gruberová; Franz Johann Morgenbesser from Vienna, Austria / CC BY-SA (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)
Befänden wir uns nicht im zweiten Lockdown, hätte die Sopranistin Edita Gruberová der Musikwelt in diesen Tagen vermutlich noch zwei Abschiedsabende beschert: Am 27. November und 1. Dezember wollte sie sich in ihrer slowakischen Heimat noch einmal in ihrer Paraderolle in Donizettis Roberto Devereux präsentieren.
Am 23. Dezember feiert die Primadonna aus Bratislava ihren 74. Geburtstag, im September verkündete sie ihren definitiven Zurückzug von der Bühne. Immerhin ein großer gebührender Abschied war ihr vergönnt, als sie im März 2019 in der Bayerischen Staatsoper noch einmal die Elisabetta in Roberto Devereux verkörperte.
Ich hatte diese Produktion 2004 zur Premiere mit ihr erlebt und die Protagonistin als sensationell in Erinnerung behalten, wiewohl mir die hochgelobte Inszenierung von Christof Loy angesichts des unsinnigen Versuchs aus der Königin Elisabeth I. eine Art Maggie Thatcher zu machen, nicht gefiel. Aber diese anspruchsvolle Rolle mit Anfang 70 noch zu bringen, erfordert einiges, Chapeau! Zwar sang Gruberová für mein Empfinden schon über ihren Zenit hinaus, erinnere ich mich, dass sie in einer konzertanten Berliner Aufführung der Norma – bereits eine Weile her – mit Intonationsproblemen in der Casta Diva-Arie zu kämpfen hatte. Aber zumindest zählt Edita Gruberová zu den sehr, sehr wenigen Sängerinnen der Gegenwart, die überhaupt noch in der Lage sind, mit einem Abschiedsabend eine lange erfolgreiche Laufbahn abzurunden.
Eine andere, die sich souverän peu à peu von der Bühne zurückzieht, ist Waltraud Meier. 2014 hat sie in einer sehr bewegenden Vorstellung an der Berliner Staatsoper zum letzten Mal ihre bedeutendste Rolle, die Isolde, verkörpert. So gut wie eh und je. So sollte es sein, finde ich, dass das Publikum es bedauert und nicht denkt, dass es allmählich Zeit wurde.
Aber eine solche Größe haben nicht allzu viele. Wer sonst gab in den vergangenen 20 Jahren schon einen Abschiedsabend? Bei vielen Sängerinnen und Sängern stellt sich das Karriere-Ende ja doch eher unfreiwillig ein, die Stimme ist dann oft schon ruiniert, ein Abschiedsabend nicht mehr möglich.
Andere verpassen den richtigen Moment und tingeln im Seniorenalter unwürdig irgendwo herum, denke ich nur an die Spanierin Montserrat Caballé, die mir von ihren letzten Auftritten mit unschönem Dauertremolo im Ohr geblieben ist.
Vor 30, 40 Jahren gab es weit mehr Abschiedsabende, und was für welche!
Ich erinnere mich nur an Christa Ludwigs letzte Vorstellungen als Klytämnestra in Strauss Elektra in Berlin und München, es muss Anfang der 1990er Jahre gewesen sein. Fulminant stellte sie einmal mehr das Abgründige dieser alptraumgeplagten Figur aus, der Beifall wollte nicht enden. Sie selbst bilanzierte diese Leistungen unlängst in unserem Interview gleichwohl mit dem für sie typischen lakonischen Humor: „Da konnte ich keinen Fidelio, keine Ortrud und keine Carmen mehr singen. Dann singt man eben was, wo man am Stock geht, alt ist und stirbt.“
Zu meinen prägenden Erinnerungen zählt freilich auch der Liederabend, mit dem sich Elisabeth Schwarzkopf am 7. Januar 1978 von ihrem Publikum der Deutschen Oper Berlin verabschiedete. Er begann und endete mit Hugo Wolf, dem Komponisten, dem sich die Jahrhundertsängerin ganz besonders gewidmet hatte. Im Alter von damals 13 Jahren konnte ich freilich all die klanglichen Raffinessen und Ausdrucksnuancen, die Schwarzkopfs Gesangskunst ausmachten, nicht ermessen, aber den Programmzettel habe ich aufbewahrt. Die Lieder der Mignon „Kennst du das Land“ und „Nur wer die Sehnsucht kennt“ stehen ebenso drauf wie die drei Lieder der Ophelia von Richard Strauss und Brahms‘ „Vergebliches Ständchen“, das Schwarzkopf ganz besonders neckisch vorzutragen wusste. Aus heutiger Sicht würde ich sagen ein „Best Of“, was für ein Programm!
Gewiss, ein Abschied verbindet sich leicht mit Melancholie und Traurigkeit. Wie sagte doch Fischer-Dieskau: „Ein Sänger stirbt zwei Tode.“
Freilich gibt es auch Sängerinnen, die aus freien Stücken schon in vergleichsweise jungen Jahren ihre Karriere aus privaten Gründen beendet haben. Catarina Ligendza ist dafür ein Beispiel oder auch die unvergessene „Arabellissima“ Lisa Della Casa.
Dagegen wird von der Schwedin Birgit Nilsson überliefert, dass sie der Gedanke an das Karriere-Ende stark geplagt haben soll. Auf zahlreichen Abschiedsvorstellungen soll sie geweint haben, ihre geplante letzte Vorstellung in der Wiener Staatsoper als Färberin in der Frau ohne Schatten sagte die Schwedin 1982 kurzfristig ab. Ihren letzten Auftritt hatte sie schließlich 1984 auf einer Konzerttournee in Deutschland. In ihren Memoiren beschäftigte sich die große Wagner- und Strauss-Sängerin noch einmal mit den Schwierigkeiten, zum richtigen Zeitpunkt aufzuhören: „Ist er dann, wenn die Stimme an ihrem absoluten Höhepunkt ist, man aber als Künstlerin und Mensch noch nicht die volle Reife erreicht hat? Oder soll man akzeptieren, dass die Stimme an Umfang verliert und versuchen, zu teilen, was die harte Schule des Lebens einem beigebracht hat?“
Nur wenigen ist es vergönnt, bis ans Lebensende auf der Bühne zu stehen so wie die unvergessliche Martha Mödl, die im hohen Alter noch kleine bis sehr kleine Charakterrollen wie beispielsweise die Mumie in Aribert Reimanns Gespenstersonate meisterte, sich auch für reine Sprechrollen nicht zu schade war.
Sinniere ich weiter über Nilssons Gedanken, kommen mir Weisheiten der Marschallin aus dem Rosenkavalier in den Sinn: „Leicht muss man sein: mit leichtem Herz und leichten Händen, halten und nehmen, halten und lassen.“ Und wenn man das „lassen kann“, sagt Christa Ludwig, die sich diese Sätze zum Lebensmotto erhoben hat, „hat man’s leichter“.
Kirsten Liese, 4. Dezember 2020, für
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Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz, Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .