"Am Rand der Avantgarde" – Ein Gespräch mit dem Komponisten Fredrik Schwenk

„Am Rand der Avantgarde“ – Ein Gespräch mit dem Komponisten Fredrik Schwenk

Prof. Fredrik Schwenk. Foto: Thomas Maier

Vielseitig, erfinderisch, voller innerer Wärme und Humor – einen solchen Eindruck auf mich machte Professor Fredrik Schwenk, als ich ihn während des diesjährigen „Festivals junger Künstler Bayreuth“ kennenlernte. Dieser Eindruck vertiefte sich noch, als ich seine Website besuchte und einige Mitschnitte seiner Werke anhörte.

Professor Fredrik Schwenk, Komponist, Musiktheoretiker und Pädagoge ist 1960 in München geboren. Dort absolvierte er ein Kunstgeschichts- und Theaterwissenschaftsstudium an der Ludwig-Maximilians-Universität sowie ein Kompositionsstudium bei Wilhelm Killmayer an der Hochschule für Musik und Theater. Er war Stipendiat der Cité Internationale des Arts in Paris, sowie Mitinitiator und Vorstandsmitglied des A*DEvantgarde e. V. Projekte Neuer Musik. Seit 2000 arbeitet er als Professor für Musiktheorie und Komposition an der Hochschule für Musik und Theater der Freien und Hansestadt Hamburg. Seit 2006 ist er künstlerischer Leiter der Akademie Opus XXI für zeitgenössische Musik, und seit 2016 Vertrauensdozent der Studienstiftung des Deutschen Volkes.

Professor Schwenk erhielt zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen, darunter den ersten Preis der Fondation Hindemith (Blonay, CH, 1990), den Kulturförderpreis der Stadt München (1992), den Carl-Orff-Preis für zeitgenössisches Musiktheater (München, 1995), den Sonderpreis der Siemens-Kulturstiftung (für A*DEvantgarde 1997) und den Reinl-Preis (Wien, 1998).

Ich beschloss, mich mit ihm über seine vergangenen und aktuellen Musikprojekte zu unterhalten.

Interview: Jolanta Lada-Zielke

Das Jahr 2020 ist eigentlich für Sie ein Jubiläumsjahr. Im Oktober hatten Sie Ihren runden Geburtstag und Sie arbeiten seit 20 Jahren an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Ich vermute, aufgrund der Coronavirus-Pandemie konnten Sie nicht wie erwartet feiern?

Das stimmt, seit dem 1. Oktober 2000 arbeite ich an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Aber an den Hochschulen feiert man solche Anlässe eher nicht. Und mein runder Geburtstag war nicht lange her, es fand eine kleine private Feier statt. Wegen der Pandemie wird eines meiner Projekte auf Januar 2021 verschoben, das in Peking aufgeführt werden sollte. Die Situation in China hat sich erheblich verbessert, sodass Hoffnung besteht, dass das Projekt umgesetzt wird.

Ist die Pandemie und die damit verbundene Zwangsisolation eine gute Gelegenheit für Sie, in Ruhe zu arbeiten? Oder umgekehrt, mögen Sie es, wenn um Sie herum viel los ist, und das inspiriert Sie?

Das was ich jetzt sage, ist vielleicht nicht populär, aber die erste Phase der Pandemie war für mich ein Segen. Für einige Zeit gab es keinen Unterricht, keine Konzertreisen und ich hatte einen Inspirationsschub für drei umfangreiche Werke bekommen. Ich habe Beethovens Bagatellen-Zyklus op. 126 neu geschrieben. Das andere Projekt ist ein vokal-instrumentales Stück, in welchem ich den lateinischen Text des 114. Psalms vertonte und das für das Festival junger Künstler in Bayreuth 2020 geplant war. Die Besetzung wird die gleiche wie in Händels „Dixit Dominus“ sein. Wir kombinieren beide Werke, nur dass mein Werk um 3 Schlagzeuger ergänzt wird, das Cembalo jedoch entfällt. Und das dritte Stück „Spring Night“ habe ich für chinesische Instrumente komponiert.

À propos Festival junger Künstler Bayreuth… Sie haben schon mehrmals daran teilgenommen, dieses Jahr mit Ihren Studenten aus verschiedenen Kompositionsklassen.

Diesmal hielten wir im Rahmen des Kultursalons einen Vortrag „Das kauzige Genie: Was Sie schon immer über Beethoven wissen wollten“. Wir erzählten unter anderem über Beethovens Umgang mit dem Metrum, mit Tempi, die bei ihm viel schneller als in heutigen Aufführungen waren. Für ihn bedeutete zum Beispiel „Presto“ ein richtiges „Presto“, kein schnelles Allegro. Er wollte seine Musiker herausfordern, das Publikum verzaubern oder sogar provozieren. Die 6 Bagatellen nehmen in seinem Schaffen einen besonderen Platz ein. Sie wurden mit einer Art kauzigem Humor komponiert. Auf jeden Fall sind diese Bagatellen nicht zu „bagatellisieren“. Der Vortrag fand im Steingraeberhaus statt, wo wir Gelegenheit hatten, die Musikbeispiele live an einem der schönsten Flügel der Klaviermanufaktur Steingraeber zu präsentieren.

Ich erinnere mich an diesen interessanten Vortrag sowie Ihr Kabarettprogramm über Beethoven, aus dem ich gelernt habe, dass er Kaffee aus genau sechzig Bohnen trank, die er sorgfältig auswählte und zählte… Lassen Sie uns jetzt über Ihre Werke sprechen. Ihr Stück „Versuch über die wahre Art C. Ph. E. Bach nachzuempfinden“ hat mein Interesse geweckt, weil ich dort kein Cembalo, sondern ein anderes Saiteninstrument höre…

Ich habe dazu ein sogenanntes Tenorhackbrett verwendet, dessen Struktur einem traditionellen bayerischen Instrument ähnelt. An der Hochschule für Musik und Theater in München, deren Absolvent ich bin, gibt es eine Fakultät für Volksinstrumente, daher kenne ich das Hackbrett. Ich habe noch andere Stücke für dieses Instrument komponiert.

Vor unserem Gespräch habe ich Ihre Lieder aus dem Zyklus „Nahes Ufer, fernes Ufer, finnische Lieder nach Viljo Kajava“ angehört. Lassen Sie sich von der skandinavischen Poesie inspirieren?

Das sind sieben Lieder zu den Texten des finnischen Dichters und Schriftstellers Viljo Lennart Kajava für Sopranstimme und Zitherbegleitung. Der Klang dieser Sprache gefällt mir sehr. Finnisch ist dem Polnischen insofern ähnlich, als es viele Fallendungen gibt. Ich mag Fremdsprachen, jede hat ihre einzigartige Melodie. Es fasziniert mich, wie zum Beispiel Leoš Janáček die Melodie der tschechischen Sprache verwendet und mit Musik kombiniert hat. Ich hatte die Gelegenheit, rezitierte chinesische Gedichte zu hören. Die Sprache der chinesischen Poesie klingt völlig anders als die alltägliche. Aber ich würde es lieber nicht wagen, selbst chinesische Gedichte zu vertonen, es müsste in Zusammenarbeit mit jemandem von dort geschehen.

Unter Ihren Werken habe ich auch den Titel „Fagottissimo“ entdeckt. Was ist das?

Das war „eine Tugend aus der Not“. Als Student der Musikhochschule in München musste ich von irgendetwas leben und ich arbeitete nachts bei der Post. Eines Tages kam ein Fagottist auf mich zu und sagte: „Du bist Komponist, du kannst bestimmt Arrangements schreiben“. Ich sagte zu, und so begann meine Zusammenarbeit mit vier professionellen Fagottisten in München. Einer von ihnen spielte im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, zwei andere an der Staatsoper und der vierte bei den Münchner Philharmonikern. Das Quartett nannte sich „Fagottissimo“ und ich arrangierte hierfür 20-25 verschiedene Stücke aus der neueren Musikliteratur. Später kam noch ein Geiger dazu und es entstanden weitere Arrangements u.a. von Kreisler für vier Fagotte und Geige. Ich komponierte auch ein paar Originalwerke, darunter einen Tango für Fagott-Quartett dazu. Es gibt eine oder 2 CDs mit dieser Musik. „Fagottissimo“ bestand 1985-2000 bis zur Pensionierung eines der Fagottisten. Ich habe bis heute Kontakt zu dem ehemaligen Leiter dieses Ensembles.

Wie sind Sie zu dem polnischen Projekt mit „Missa pro Pace“ von Feliks Nowowiejski gekommen?

Das fing an der Volkshochschule Hamburg-Sasel an. Der Leiter der dortigen Musikabteilung ist ein Mitglied der Deutsch-Polnischen Gesellschaft vor Ort. Mein ehemaliger Kollege, der im Kontakt mit ihm stand, fragte mich einmal, ob es irgendwelche Studierenden gäbe, die jeweils einen Satz aus der Messe von Feliks Nowowiejski instrumentieren könnten. Ich sah und hörte mir das Stück an und meinte: „Es tut mir furchtbar leid, aber so etwas könnten Studierende kaum leisten. Das muss professionell ausgeführt werden, da diese Musik sehr anfällig ist. Man kann viel von dem Originalklang dieser Musik verlieren, wenn man das Werk irgendwie uminstrumentiert. „

Ich beschloss, die Aufgabe selbst zu übernehmen. Zunächst hörte ich andere Werke von Nowowiejski und entdeckte dabei einen fantastischen Komponisten, den man in Deutschland nicht oder viel zu selten spielt. Dann beschäftigte ich mich mit der Instrumentation. Die Aufgabe war insofern schwer, als es relativ wenig Orchesterpartien von Nowowiejski selbst gibt, wo man hört, wie er selbst instrumentierte. Ich versuchte auf dieser Grundlage auch das Individuelle seines Klangs miteinzubringen. Die Bearbeitung war ähnlich wie bei „Bilder einer Ausstellung“ von Ravel; da merkt man seine Handschrift, aber trotzdem ist alles von Mussorgsky. Ich hatte dieselbe Absicht: Das muss Nowowiejski pur sein, keine fremde Note darf dazu kommen, aber alles sollte trotzdem einem idealen Klang entsprechen. Als die ganze Bearbeitung stand, kam es zur Uraufführung der Messe im Jahre 2016 mit einem deutschen Chor aus Uetersen, der den Chor der Technischen Universität in Stettin dazu engagierte. Man traf sich zum Proben, und führte dann das Werk in Stettin auf. Wir organisierten ein anderes Konzert in Goleniow (Gollnow), in der Nähe von Stettin, wo es eine wunderschöne Kirche gibt, und dann kamen noch zwei Auftritte in Deutschland, einer in Hamburg in Sankt Katharinen und der andere in Uetersen hinzu. Nachdem dieses Projekt vorbei war, haben wir entdeckt, dass es schon eine Instrumentation dazu gab, aber leider keine besonders gute.

Es gibt auch eine CD mit der Aufnahme der „Missa pro Pace“. Fanden noch mehr Konzerte mit dem Programm statt?

Unsere nächste Idee war, den Bote-Bock-Verlag Berlin zu einer Herausgabe der Messe zu bewegen. Der Ehemann meiner Kollegin ist dort als Lektor angestellt und interessiert sich speziell für polnische Musik. Ich zeigte ihm die Partitur, aber dann habe ich nichts mehr von ihm gehört. Ich finde es sehr schade, dass es keine weiteren Konzerte mit dieser Messe gab. Der hervorragende polnische Chorleiter meinte, man müsse das mit einer professionellen Besetzung machen, ein gutes Orchester dazu engagieren und den TU-Chor mit einem professionellen Vokalensemble kombinieren. Das hätte eventuell in Warschau stattfinden sollen, aber daraus ist leider noch nichts geworden.

Jetzt eine Frage zu Ihrer pädagogischen Arbeit: Wie bringt man Studierenden das Komponieren bei? Sollen sie sich an Satzregeln halten wie keine parallelen Quinten und Oktaven sowie ungelöste Septakkorde zu verwenden? Oder gibt es heute mehr Freiheit?

Die Frage ist ganz wichtig, der Finger trifft genau in die Wunde. Heute ist im Grunde alles erlaubt und möglich, unabhängig davon, welche Art von Material ich verwende; ob ich konzeptionell, seriell oder postseriell, minimalistisch oder neotonal schreibe. Und jetzt kommt das große ABER, weil es wirklich schwer ist, dafür die Bewertungskriterien zu finden. Manchmal kommt ein junger Komponist zu mir und ich sehe, dass ihm handwerklich bestimmte Dinge fehlen. Er ist nicht imstande, die Musik formal zu entwickeln, das Material sinnvoll einzusetzen, sodass sein Stück schon nach zwei Minuten langweilig ist. Er kann nicht so instrumentieren, dass am Ende alles farbig, aber nicht grau klingt. Das sind Dinge, die heute durch einen Federstrich ausgehebelt werden können. Jemand besteht oft darauf: „Ich will das aber so haben“. Dann bin ich immer in Zugzwang und sage: „Moment, das können Sie behaupten, aber es gibt trotzdem jenseits dieser Freiheit, immer noch Gesetzmäßigkeiten; ist die Kunst authentisch, ist sie überhaupt notwendig, oder sozusagen nicht völlig redundant oder entsteht tatsächlich in irgendeiner Weise etwas Innovatives.“

Am wenigsten ist das der Fall, wenn jemand etwas ganz Neues entwickelt. Die wichtigste Aufgabe als Lehrer in diesem Bereich ist, erstmal herauszufinden, wo jemand seine Schwäche und wo seine Stärke hat. Die Stärke sollte man noch mehr befördern, damit der Student an diesem Pfad festhält und sich nicht von tausend anderen Dingen beeinflussen und beirren lässt. Dazu kommt noch die Selbstreflektion. Man sieht oft, dass viele Komponisten ihre Werke im multimedialen Bereich schaffen. Wir haben an der Hochschule einen Masterstudiengang für Multimediale Komposition. Und dann spielen mir diese Komponisten etwas vor, mit der Überzeugung, dass noch niemand zuvor auf diese Idee gekommen sei. Ich schalte den Rechner an und sage: „Guck mal, dieses Stück kommt aus dem Jahr 1956, es war schon da gewesen.“ Dann sind sie darüber enttäuscht, weil sie vieles nicht kennen. Ich sage ihnen: „Macht nichts, das ist nicht das Kriterium. Ich will nur von dir wissen: Ist das, was DU machst, BIST DAS DU? Oder ist das einfach nur nachgemacht? Das ist entscheidend.“ Und das macht es so schwierig, sich jenseits dieses Kriterienkatalogs von früher zu orientieren: Dissonanz-Auflösung, bestimmte Formen, Instrumente zum Klingen zu bringen. Wenn man alle diese Dinge wegnimmt und sagt, das spielt für mich keine Rolle, was bleibt dann als Kriterium? Was ist ein starkes Kriterium dafür, dass die Kunst wirklich eine Bedeutung hat, damit ich zum Werk stehe und sagen kann: „Das ist ein wichtiger Beitrag für unsere Kulturgeschichte!“ Darum geht es eigentlich.

Was hätten Sie sich in diesem Jubiläumsjahr gewünscht?

Als Komponist befinde ich mich nicht im Zentrum der Avantgarde, sondern stehe an ihrem Rand. Zwar verbrachte ich während des Studiums Zeit mit Helmut Lachenmann und lernte Karlheinz Stockhausen persönlich kennen. Ich habe lange im Abseits durchgehalten. Es gibt Komponisten, die schon mit 30 aufhören, weil sie in dem was sie tun nicht vorankommen oder nicht mehr gehört werden. Ich habe nie aufgegeben, weil es zu allen Zeiten immer Komponisten gab, die sozusagen „zwischen den Stühlen saßen“ und an dem Mainstream oder an Modeerscheinungen der Neuen Musik vorbei immer ihren Weg gegangen sind. Brahms ist das beste Beispiel dafür, in Polen Karol Szymanowski, ein unglaublich guter Komponist und nach wie vor von der Avantgarde nicht akzeptiert. Krzysztof Penderecki hat es aber geschafft. Der äußere Erfolg und das, was man lebenslang als Komponist leistet, sind zwei unterschiedliche Dinge, die man selbst nicht beeinflussen kann. Franz Schubert hat zu seinen Lebzeiten keinen Erfolg gehabt und trotzdem war er ein musikalisches Genie. Auch Bach, von dem die Welt so gut wie nichts gewusst hat, und heute sprechen alle über ihn.

Ich würde mir nicht anmaßen zu behaupten, dass die Welt in 50 Jahren auch über mich spricht. Das ist mir nicht wichtig. Aber ich hätte mir zu meinem 60. Geburtstag gewünscht, dass jemand vielleicht auf die Idee kommt und sagt: „Mensch, da ist jemand, der ganz konsequent einen bestimmten Weg verfolgt, und auf dieser Art und Weise viele Schüler hervorgebracht hat, die international bekannt geworden sind“. Meine ehemalige Studentin Ruta Paidere ist jetzt eine der wichtigsten Komponistinnen zeitgenössischer Musik in Lettland. Hector Docx ist jetzt auf dem Weg, eine große Karriere zu machen. Ich bin auch stolz auf Benjamin Scheuer, der mittlerweile ein international gefragter Komponist ist. Junge Menschen, die zu mir kommen, wissen, dass sie von mir keine avantgardistische Prägung erfahren werden, sie bekommen aber solides Handwerk. Wir sprechen und diskutieren über die ästhetischen Aspekte und die Bedeutung des Materials, über die Authentizität eines Werkes. Mein großer Wunsch wäre, dass diese Kategorien auch in Zukunft noch eine Rolle spielen. Ich kann damit gut leben und vielleicht passiert noch viel Schönes und Aufregendes in diesem Bereich bis zu meinem 70. Geburtstag.

Das wünsche ich Ihnen auch! Herzlichen Dank für das Gespräch.

Jolanta Lada Zielke, 3. Dezember 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert