Ich bin schon ziemlich Stream-müde. Mehr als einen notdürftigen Behelf geben diese Streams einfach nicht her, ein Live-Erlebnis können sie nicht ersetzen.
von Kirsten Liese
Video-Streams und TV-Übertragungen bieten aktuell die einzige Möglichkeit für Musikerinnen und Musiker, nicht zu verstummen. Wobei es meist die großen Namen sind, die sich in Opernaufführungen, Konzerten oder Gala-Vorstellungen präsentieren. Stars wie Jonas Kaufmann, Elina Garanca, Piotr Beczala oder Placido Domingo. Oder auch die gefeierte Dirigentin Joana Mallwitz, die ihr Berlin-Debüt im rbb-Fernsehen feierte. Auch die mit dem Tenor Roberto Alagna prominent besetzte Lohengrin-Premiere an der Berliner Staatsoper Unter den Linden am kommenden Sonntag und das traditionelle Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker unter Riccardo Muti werden nur auf Monitoren verfolgt werden können. Dies dann allerdings mit Einschränkungen und Klimmzügen.
Da werden mal eben im Opernhaus Zürich Orchester und Chor in einen Probenraum in einem benachbarten Gebäude ausgelagert und digital in den Saal zugespielt. Die Berliner Staatsoper speckt für den Lohengrin das Orchester auf 45 Musiker ab. Und in Wien macht man sich Gedanken, wie zu dem traditionell zugegebenen Radetzky-Marsch der Beifall in den Goldenen Saal des Musikvereins hineingelangen könnte. Dafür standen schon Ideen im Raum, wie registrierte Stream-Zuschauer möglicherweise ihren Beifall online einspielen können sollten. Ganz ehrlich: Ich halte das alles für ziemlich absurd.
Ohnehin bin ich schon ziemlich Stream-müde. Mehr als einen notdürftigen Behelf geben diese Streams einfach nicht her, ein Live-Erlebnis können sie nicht ersetzen. Nicht den energetischen Austausch zwischen Interpreten und Publikum, nicht den wahren Klang, wie er im Raum entsteht, und nicht die Wahrnehmung, die sich einstellt, wenn man ein Kaliber vor sich hat wie einst eine Birgit Nilsson, deren große Stimme die besten Tontechniker der Ära eines Georg Solti überforderte. Jeder, der die Schwedin einmal real gehört hat, weiß, dass die Aufnahmen von ihr nur eine vage Ahnung von ihrer Kunst widerzugeben vermochten. Wollte man die Faszination dieser Sängerin erfahren, musste man sie live auf der Bühne erlebt haben.
Mit eben diesem Thema, des unersetzlichen Live-Erlebnisses, beschäftigt sich auch ein zwar etwas unausgegorener, aber doch sehenswerter Film, der am 10. Dezember eigentlich ins Kino kommen sollte, nun aber wegen Covid19 – welch eine Ironie des Schicksals – nur auf Online-Plattformen wie Amazon, I-Tunes oder Google Playshop on demand angeboten werden kann.
Schlicht Live lautet der Titel dieses Films von Lisa Charlotte Friedrich, die das Drehbuch dazu schon 2016 schrieb und sich selbst nicht darüber auswundern kann, dass ihr Szenario nur acht Wochen nach der Weltpremiere beim Saarbrücker Filmfestival Max Ophüls Preis im Januar dieses Jahres so erschreckend aktuell anmutet, als habe sie vieles vorhersehen können. Jedenfalls spielt diese Geschichte in einem dystopischen Deutschland im Lockdown. Schon seit längerer Zeit dürfen sich Menschen hier nicht mehr persönlich begegnen oder versammeln, jegliche Veranstaltungen sind nur noch im virtuellen Raum erlaubt. Nur, dass hier diese Maßnahmen aus Sicherheitsgründen aufgrund einer erhöhten Gefahr von Terroranschlägen erfolgt sind.
Im Zentrum steht die Psychologin Claire, die Opfer von Anschlägen betreut. Als sie eines Tages bei einem Klienten eine illegale Eintrittskarte findet, löst das in ihr das Bedürfnis aus, mit ihrem Bruder Aurel, einem renommierten Trompeter, ein Konzert mit physisch anwesendem Publikum zu initiieren. Aurel, der selbst darunter leidet, nur noch im virtuellen Raum zu konzertieren, ist Feuer und Flamme. Gemeinsam mit zwei Hackern, die Drohnen blockieren und mit Hilfe von Interferenzsystemen dafür sorgen, dass das illegale Konzert von niemandem entdeckt werden kann, stellen sie ein Konzert auf die Beine.
Wenngleich sich der Film inspiriert von der biblischen Geschichte um Kain und Abel unerwartet fortsetzt und die Ambition eines spannenden gesellschaftspolitischen Beitrags in den Hintergrund drängt, so vermittelt er doch zumindest allemal überzeugend, dass physische Nähe und das Erleben online nicht ersetzbar sind. In den Augen und Körpern der im Konzert versammelten Menschen sind die Sehnsucht nach Nähe und die tiefgehenden Folgen der Einschränkungen und Entbehrungen erkennbar. Zuvor sah man auf einem Monitor einen Mann, der die Isolation nicht mehr erträgt und in seiner Verzweiflung Suizid begehen will.
Die Atmosphäre prägt dabei ganz und gar der stimmungsvolle, jazzig angehauchte Soundtrack der Trompeterin Rike Huy, deren melancholische Klänge ein wenig an Miles Davis‘ Musik zu Louis Malles Thriller Fahrstuhl zum Schafott erinnert.
Es trifft sich jedenfalls gut, dass der Film endlich die Öffentlichkeit erreicht, wo doch unlängst in Gestalt von Till Brönner ein realer Trompeter seinem Unmut gegen das stillgelegte Musikleben Luft gemacht hat und zahlreiche weitere Künstlerinnen und Künstler mit dem Bariton Christian Gerhaher als Zugpferd in München gegen die Theaterschließungen vor Gericht ziehen, besorgt darüber, dass sich das Publikum der Oper und des Konzerts gänzlich entwöhnen könnte. Ihre Chancen stehen nach Einschätzung von einigen Experten nicht schlecht, zumal davon auszugehen ist, dass die Infektionsgefahr aufgrund der strengen Hygieneregeln in den Theatern geringer ist als in privaten Wohnungen. Hoffen wir das Beste. Toi toi toi.
Kirsten Liese, 11. Dezember 2020, für
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Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz, Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .