Lieses Klassikwelt 74: Im falschen Film

Lieses Klassikwelt 74: Im falschen Film

Sollte die Zukunft nur noch der Streamingkultur gehören, wäre das zweifellos sehr traurig.

Foto: © Matthias Creutziger – Christian Thielemann

von Kirsten Liese

Wenn ein Film schlecht ist, verlasse ich das Kino vorzeitig, und zwar unabhängig davon, ob der Regisseur berühmt ist oder nicht. Meistens habe ich einen guten Instinkt dafür. So gut wie nie kam es vor, dass mir Kollegen nach einer Pressevorführung berichteten, der Film sei noch besser geworden, ich hätte etwas versäumt. Im Gegenteil. Fast immer haben die übrigen Zuschauer auch irgendwann das Kino verlassen, nur eben später, weil sie noch die Hoffnung hatten, dass der Film noch was wird. Viele bereuten es später, ihre kostbare Zeit vergeudet zu haben, andere, die pflichtbewusst noch ausharrten, beneideten mich, mir diese Freiheit einfach genommen zu haben. Dabei ist es ganz einfach: Aufstehen und gehen.

Das schleichende Verlassen eines schlechten Films im Kino ist für mich aber auch eine Metapher für das aktuelle Geschehen im Kampf um unsere Kultur. Im vergangenen Jahr war es unter den namhaften Künstlern zuerst nur Riccardo Muti, der die europaweiten Corona-Maßnahmen kritisierte und dazu aufrief, die Theater zu öffnen. Er schickte diesen Appell in einem offenen Brief vergeblich weiland an Premier Conte, hielt Ansprachen nach seinen gestreamten Konzerten, zuletzt auch beim Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, blieb lange Zeit aber nur ein einzelner Rufer in der Wüste. Kaum, dass nun Mario Draghi in Italien den schwierigen Auftrag einer neuen Regierungsbildung übernommen hat, trat Muti bereits auch schon wieder an ihn mit einem offenen Brief heran.

Zum Glück ist Muti inzwischen aber nicht mehr allein. Jetzt hat auch Christian Thielemann seine Enttäuschung darüber öffentlich gemacht, dass Peter Theiler, Intendant der Semperoper, seine Arbeit behindere und an seinem Haus so gar nichts möglich mache, noch nicht einmal ein Konzert oder eine Opernaufführung im Stream, auf die  derzeit viele Opernhäuser und Orchester ausweichen. Dass die Sächsische Staatskapelle dazu nicht in der Lage sein sollte, erklärt sich nicht. Und noch weniger, dass das Orchester nun für geplante Konzerte bei den Osterfestspielen in Salzburg nicht in Dresden proben darf, sondern auf Salzburg ausweichen muss, zumal sich doch alle Musiker sowieso testen lassen müssen. In Salzburg hatte Muti im Sommer Beethovens Neunte aufgeführt, mit großer Chorformation, da standen die  Sänger wie die Heringe nebeneinander, alle waren getestet. Spätestens da zeigt sich die Absurdität der Maßnahmen: Sind diese PCR-Tests nun verlässlich? Andernfalls wären sie auch verzichtbar.

Insofern hat Thielemann völlig Recht, wenn er das lange Pausieren in Dresden als „Katastrophe“ bezeichnet und resümiert, an anderen Häusern sei mehr ermöglicht worden, ohne dass er sich vorstellen könne, „dass man dort fahrlässig oder gar gegen das Gesetz gehandelt hat“. Eben, zumal sich angesichts bewährter „Hygiene“-Konzepte längst herumgesprochen hat, dass eine Infektionsgefahr in den Theatern äußerst gering ist.

Das sehen Mitglieder der Sächsischen Staatskapelle ähnlich, jedenfalls hat Orchestervorstand Holger Grohs in mutiger Solidarität mit seinem Chefdirigenten den übervorsichtigen Intendanten Theiler ebenfalls dafür kritisiert,  Kultur zu verhindern, zudem sind fünf Musiker für ihr Recht auf Arbeit vor das Arbeitsgericht gezogen und warten nun nach abgewiesener Klage auf ihre Berufungsverhandlungen im März. Ich drücke ihnen allen fest die Daumen!

Und wenn ich kürzlich in einer anderen Klassikwelt schrieb, Riccardo Muti und Christian Thielemann seien die besten Dirigenten, die wir haben, dann hat das auch mit einer solchen starken Persönlichkeit zu tun: zu Überzeugungen stehen, Rückgrat haben, sich was trauen.

Aber mittlerweile ist der schlechte Film soweit fortgeschritten, dass sich mehr und mehr Künstlerinnen und Künstler aus der Deckung wagen und ihrem Unmut über die Stilllegung der Kultur Luft machen, darunter immerhin ein paar namhafte Sänger wie Christian Gerhaher, Diana Damrau oder Anna Prohaska, die Geigerin Anne-Sophie Mutter und aktuell auch der ehemalige Berliner Kultursenator und amtierende Präsident der Musikhochschule Franz Liszt in Weimar Christoph Stölzl.

Letzterer hat dabei auch die zahlreichen selbstständigen Künstlerinnen und Künstler im Blick, denen die Existenz weggebrochen ist, auch mangels finanzieller Hilfen. Das Gros der Betroffenen hat mittlerweile den Beruf wechseln müssen, vermeldete unlängst der „Tagesspiegel“.

„In der Demokratie muss man so lange hartnäckig an die Tür klopfen, bis einem aufgetan wird – auch vom Staat“, meint Stölzl, der sich zurecht darüber sorgt, dass es irgendwann im Zuge der Entwöhnung heißen könne: „Naja, Kultur ist eigentlich nur eine Information. Ich hole mir eine CD mit der Callas, die singt auch sehr schön.“

Ähnlichen Befürchtungen wirkte im vergangenen Jahr auch Daniel Barenboim entgegen, als er nach seinem ersten Konzert mit der Berliner Staatskapelle nach dem Lockdown im Hinblick auf die expandierenden Streamingdienste sagte: „Musik entsteht im Raum und nicht im Internet!“ Nur haben das leider nur die knapp 300 anwesenden Leute im Publikum gehört. Er sollte das noch mal lauter sagen.

Sollte die Zukunft nur noch der Streamingkultur gehören, wäre das zweifellos sehr traurig.

Immerhin ein Gutes hat es, dass die Kinos geschlossen sind: Ich werde in absehbarer Zeit keinen schlechten Film mehr sehen.

Kirsten Liese, 12. Februar 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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© Kirsten Liese

Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz,  Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .

 

Ein Gedanke zu „Lieses Klassikwelt 74: Im falschen Film“

  1. Streamingdienste sind auch nicht das Wahre. Konzertbetreiber, die darauf als Alternative oder sogar als Ersatz ausweichen, schlagen damit nur die Sargnägel an ihre Häuser. Musik will und muss erlebt werden, es braucht die Schwingung im Raum, ein Publikum mit Reaktionen, das Spüren im Moment, das Ergriffen-Sein mit dem Künstlern oder die Enttäuschung über das nicht erreichte Niveau.
    Da können Streamingdienste noch so schnell sein oder noch so gute Auflösung bieten oder einen mit Zusatzinformationen bombardieren – an das Live-Erlebnis der Aufführung werden sie niemals herankommen.
    Dazu kommt, dass wir durch die Digitalisierung auch so schon viel zu viel Zeit vor dem Bildschirm verbringen, warum sollte man sich das dann auch noch zu einem Konzert antun?

    Vielleicht sollten die Konzertbetreiber da einmal vom Bereich Pop-Musik lernen, dem es (zu meinem großen Bedauern) durch ökonomische Fachkenntnis und geschickte Vermarktung viel besser gelingt, die Leute zu ergreifen und zu Veranstaltungen zu holen.

    Daniel Janz

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