Foto © Michael Patrick O’Leary
Lübeck, Musik- und Kongresshalle, 23. August 2019
Schleswig-Holstein Musik Festival (SHMF)
Hilary Hahn, Violine
Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
Omer Meir Wellber, Dirigent
Johann Sebastian Bach / Maximilian Otto:
„Contrapunctus I“, Orchestrierung des Contrapunctus I aus „Die Kunst der Fuge“, BWW 1080
Johann Sebastian Bach:
Konzert für Violine, Streicher und Basso continuo Nr. 2 E-Dur BWW 1042
Johann Sebastian Bach / Aziza Sadikova:
„Mirroring Contrapunctus for orchestra“, Orchestrierung des Contrapunctus XII aus „Die Kunst der Fuge“, BWV 1080
Johann Sebastian Bach:
Konzert für Violine, Streicher und Basso continuo Nr. 1 a-Moll BWV 1041
Franz Schubert:
Sinfonie Nr. 3 D-Dur D 200
von Guido Marquardt
Vergessen wir einfach mal die ganzen Wunderkind-Klischees, das auch 20 Jahre später anhaltende Erstaunen darüber, ausgerechnet mit Bachs Violin-Sonaten und -Partiten zu debütieren und zu reüssieren, überhaupt den ganzen „Weltstar“-Überbau, der um Hilary Hahn herum errichtet wurde, seit sie die internationale Bühne im Sturm enterte. Was bleibt, während man Hahns Auftritt beim SHMF folgt, ist die schlichte Feststellung, dass hier eine Violinistin, eine Musikerin zu erleben ist, deren Präsenz, Souveränität und technische Brillanz nur noch von ihrer immensen Musikalität übertroffen wird. So fließend, so fein und zugleich so direkt und präzise, niemals romantisch – das ist Bachsche Violinmusik in Perfektion.
Ein recht kontrastreiches Programm erlebt das Publikum an diesem Abend in Lübeck: Während die Violinkonzerte Nr. 1 und 2 zu Bachs wohl zugänglichsten, beliebtesten und meistgespielten Stücken gehören, ist „Die Kunst der Fuge“ ein auch nach Jahrhunderten über weite Strecken rätselhaftes und eher hermetisches Werk geblieben.
Überraschende Fülle
Verschärft wird das an diesem Abend noch durch die Versionen, die von der Bremer Kammerphilharmonie unter Omer Meir Wellber aufgeführt werden: Es beginnt mit einer Bearbeitung des gerade mal 20-jährigen Dirigierstudenten Maximilian Otto, der sich den ersten Contrapunctus mit dem Ziel vorgenommen hatte, eine „Verhältnismäßigkeit zwischen der natürlichen Entwicklung der Musik und [seiner] Vorstellung einer guten Interpretation für das Instrument „Orchester“ auszuloten.“ Eine insgesamt gelungene Übung, die vom Bremer Orchester kongenial transportiert wird. Beginnend mit Streicher-Pizzicati und einem leise anschwellenden, elektronisch anmutenden Klangbild, steigen die Instrumente nach und nach mit ein. Gedämpfte Blechbläser verhindern, dass sie im Orchester allzu sehr dominieren, und am Ende ertönt ein Tutti-Sound, der mit einer Fülle überrascht, wie man sie weder bei Bach noch bei einem so klein besetzten Orchester sonst erwarten würde.
Motive wie flüchtige Schatten
Ganz anders dann Aziza Sadikovas (*1978) Bearbeitung der vertrackten Spiegelfuge „Contrapunctus XII“: Nicht Verstärkung und Verklarung, sondern Reduktion und verschwommene Skizzierung charakterisieren ihren Ansatz. Gemeinsam mit Ottos Werk hat sie höchstens den elektronisch klingenden Sound. Die Streicher arbeiten von Anfang an mit ihren Bögen, die sie jedoch überwiegend nur ganz leicht über die Saiten führen. Die einzelnen Motive sind wie flüchtige Schatten, die kurz aus dem Gesamtklang auftauchen, um dann wieder zu verschwinden, überdeckt von dissonanten Klängen und regelrechten Störgeräuschen. Eine Probe für die Aufmerksamkeit – auch für die Musiker, die hier so konzentriert und angespannt wirken wie in keinem anderen Moment an diesem Abend. Gegen Ende greift, nicht zum letzten Mal, dann auch der junge Maestro Meir Wellber zum Akkordeon, dessen lang gehaltene, nur minimal verschobene Tonfolgen ideal zum Klangbild dieser Bearbeitung passen. Bisweilen erinnert das an Ligeti, aber auch das ist etwas, das kurz aufblitzt und dann wieder weiter zieht.
Hilary Hahn als Chef im Ring
Es ist bestimmt nicht nur dem Umstand geschuldet, dass Meir Wellber für die beiden Violinkonzerte am Cembalo Platz nimmt, von wo aus er naturgemäß etwas weniger „Zugriff“ auf das Orchester hat, dass man vom ersten Takt an bei den Bach-Konzerten sehr deutlich spürt: Hier hat Hilary Hahn das Kommando. Mimisch und gestisch steht sie bei ihrem Auftritt beständig im Austausch mit dem Orchester. Dabei wirkt sie zugleich fokussiert auf ihre Aufgabe wie auch ganz offen für die Atmosphäre um sie herum. Ohne auch nur irgendwie unfreundlich werden zu müssen, ohne ihre Hände oder gar ihre Stimme einzusetzen, sorgt sie so auch durch ihre schiere Präsenz dafür, dass das Publikum nur ein einziges Mal den Fauxpas des Applauses zwischen den Sätzen begeht.
Viel wichtiger jedoch: Musikalisch lässt sie an diesem Abend überhaupt nichts anbrennen. Die schnelleren Sätze spielt sie extrem balanciert, mit wenigen Verzierungen, zugleich auch tänzerisch, wo es passt, wie etwa im dritten Satz des E-Dur-Konzerts. Voll und warm klingt ihre Vuillaume-Geige, eindrucksvoll zu erleben im ersten Satz des a-Moll-Konzerts, den sie schnörkellos in den Saal zaubert. Zu den Markenzeichen der beiden Konzerte gehört ja, dass hier nicht einfach nur gewechselt wird zwischen Solo- und Orchesterpassagen, sondern auch die Solo-Violine sich immer wieder das Orchester eingliedert. Auch dies gelingt Hahn und dem Orchester wundervoll, sehr markant ist dies z. B. im dritten Satz des a-Moll-Konzerts, wo Hahn ja solistisch besonders virtuose und druckvolle Passagen zu übernehmen hat und dennoch blitzschnell wieder umschaltet zur Orchesterbegleitung.
Besser geht’s nicht
Die beiden langsameren Mittelsätze sind allerdings die brillantesten Leistungen an diesem Abend. Im E-Dur-Konzert spielt Hahn hier mit mehr Vibrato und so getragen, dass es eben gerade noch nicht in die Verkitschung führt. Noch ergreifender gelingt ihr süß singendes Spiel im a-Moll-Konzert, es bleibt hier nur die Vokabel „ergreifend“. Das kann man nicht besser spielen, nur anders.
Für eine elegisch-melancholische Zugabe begleitet sie dann Omer Meir Wellber wiederum auf dem Akkordeon: „Oblivion“ von Astor Piazzolla, ein Werk wie ein Soundtrack für lange Autofahrten bei Nieselregen durch menschenleere Landschaften. Das ist zum Wegträumen schön, aber damit es nicht gar zu romantisch wird, streut Meir Wellber immer wieder neckische Volten ein, wie etwa fast parodistisch anmutende Vibrato-Einlagen.
Und ein kleines Solostückchen aus den Violin-Sonaten und -Partiten hängt Frau Hahn dann als Abschiedsgruß an, als sei es eine Fingerübung. Atemberaubend.
Spaß für alle
Nach der Pause sinkt für Sie … ah nein, nicht das Niveau, das wäre nicht fair. Schon aber der Anspruch: Die dritte Sinfonie von Schubert, die er im zarten Alter von 18 Jahren komponierte und die natürlich keinesfalls, wie seinerzeit von Brahms anempfohlen, lediglich „mit Pietät“ verwahrt statt aufgeführt gehörte, ist ein veritables Volksstück im besten Sinne. Schwungvoll und beseelt von Beginn an, lädt sie dann im dritten Satz beinahe zum Schunkeln ein und geht energetisch mit dem Presto vivace zu Ende. Maximaler Spaß im Saal für Orchester und Publikum – sofern man das Bach-Programm als geistig fordernd empfunden hatte, war das doch eine befreiende Angelegenheit.
Bejubelter Erfolg
Und zur Zugabe dann nochmals Piazzolla und nochmals der Maestro mit Akkordeon: Ein schwungvoller „Libertango“ beschließt einen Konzertabend, dessen innere Programmlogik sich nicht immer erschließen mochte, der aber von einem sensibel und präzise musizierenden Orchester, einem engagierten Maestro und einer, bitte sehr: Weltklasse-Solistin zum ebenso bejubelten wie verdienten Erfolg getragen wurde.
Guido Marquardt, 24. August 2019, für
klasssik-begeistert.de