Szenen, die uns nicht loslassen: „Weiße Rose“ von Udo Zimmermann

Meine Lieblingsoper 32: Udo Zimmermann, Weiße Rose

Udo Zimmermann (2006). Foto: Astrid Ackermann*

„Nach dem Termin waren wir mit unsrer Nichte vis à vis der Oper zu einem Kaffee verabredet und konnten unsre Enttäuschung nicht ganz verbergen. Irgendetwas war bei unsrer mit Vorfreude erwarteten Begegnung mit dem Komponisten nicht zur Sprache gekommen.“

von Lothar und Sylvia Schweitzer

Man konnte es ein Steckenpferd von Staatsoperndirektor Claus Helmut Drese (1986 – 1991) nennen, das Bespielen des Theaters im Künstlerhaus, wie ehemals im Redoutensaal der Wiener Hofburg als Dependance der Wiener Staatsoper Mozartopern erklangen. Gespielt wurden Opern der Moderne im Ausmaß weniger Mitwirkender, also eher Kammeropern. Den Staatsoperndirektor sah man immer anwesend.

Nachhaltigen Eindruck hat auf uns nur Udo Zimmermanns „Weiße Rose“ in seiner konzentrierten Umarbeitung, ja Neuschöpfung der Jahre 1984/85 hinterlassen. Die Uraufführung fand auf der Studiobühne Opera stabile der Hamburgischen Staatsoper am 27. Februar 1986 statt. Erst später erfuhren wir, dass ursprünglich eine Oper Udo Zimmermanns nur gleichen Namens die Geschichte der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ mit einer Mehrzahl an Personen zum Inhalt hatte.

Die Ver-Dichtung auf die Grenzsituation zweier junger Menschen, Sophie und Hans Scholl, eine Stunde vor ihrer Hinrichtung durch das nationalsozialistische Regime ist das Berührende. Das geschieht mit authentischen Worten der Geschwister aus ihren Brief- und Tagebuchaufzeichnungen sowie durch Prosa und Lyrik von Dietrich Bonhoeffer, Franz Fühmann, Reinhold Schneider und Tadeusz Różewicz. Auch Psalmenworte hat Wolfgang Willaschek in die Texte eingebunden.

Die Bühne besteht einfach aus der dunklen Gefängniszelle und ist trotzdem für die sechzehn Szenen als Raum einer konzertanten Wiedergabe vorzuziehen. Jede Szene trägt einen Namen nach den gesprochenen, geschrienen oder gesungenen Anfangs- oder Schlüsselworten.

„Gib Licht meinen Augen, oder ich entschlafe des Todes“, singen Schwester und Bruder einem Kanon ähnlich. Sie wissen, dass ihr Leben in der oder in den nächsten Stunden zu Ende geht, aber Hans mahnt: „Wach bleiben, wenn unser Herz auf seinen Heimweg geht.“

Die zweite Szene ist allein Sophie vorbehalten. Kurz vor ihrem Tod erfüllt sie ein neues intensives Lebensgefühl. „Ich spüre jede Ader, jeden sanften Hauch … durch meine Haut dringt alles Leben.“

In der vierten Szene „Dass es das gibt“ singen die Geschwister im wahrsten Sinn des Worts nebeneinander, Sophie von den Schönheiten der Natur, Hans wird von Schreckensvisionen gequält.

In der fünften Szene wird uns von Sophie und Hans das Bild vor Augen gestellt, wie behinderte singende Kinder ahnungslos zur Euthanasie abtransportiert werden. Eindringlich hören wir Sophie mit wiederholenden Phrasen „Nicht Abschied nehmen, nicht Abschied nehmen, wir spielen morgen, spielen morgen weiter, spielen …“ Hans am Ende des fünften Teils: „Der Mond scheint, die Straße ist leer.“

In der Szene VI „Wir haben eine Mauer aufgebaut“ ist allein Hans am Wort. Zum ersten Mal wird das Schweigen zum bedenkenswerten Thema.

Teil VII und Teil VIII vermitteln uns zunächst Sophies Panik, als sie glaubt das Aufsperren der Zellentür schon zu hören, jegliche Melodie bleibt ihrer Stimme versagt. Keine Gesangslinie mehr. Nach einer Pause tiefen Schweigens spricht Hans: „Sie haben ihr das Haar geschoren …“ Meint er Sophie, seine Geliebte? Die Musik begleitet wie das Zerschlagen von Glas. Hans beginnt liberamente cantabile den Vergleich mit dem Untergang der Sonne in den Wellen des Meeres. Er singt von einem Zerrinnen des Bilds. Eine Auflösung ohne Trost.

Was Worte und ihre Metapher nicht mehr ausdrücken, wird auf das instrumentale Zwischenspiel übertragen. Verzweiflung, ein Sich-Auflehnen, Verstummen.

Szene XII „Mein Gott, ich kann nichts anderes als stammeln“ lässt uns das Gefühl der Gottverlassenheit spüren. Das „ich bin zu schwach“ von Sophie in hoher Lage begonnen und in Mezzo-Lage übergehend, vom Bariton in hoher Lage intoniert. Zum Schluss Sophie mit einem verzweifelten Aufschrei: „Reiß mich mit Gewalt zu Dir.“ Hans beschließt die Szene resignierend, nachdenklich: „Wenn leis der Herbst anbricht und mit der letzten Trauer seine Schönheit zeigt.“

In Szene XIII eröffnen sich optisch Lichtwege von verschiedenen Seiten. Als öffneten sich Türen. Sophie als höre sie die Mutter auf Jesus weisen, Hans als höre er den Vater mahnen: „Nicht abseits stehen, weil es abseits kein Glück gibt.“ Was dieser Szene auch den krönenden Titel gibt.

In der nächsten Szene haben Sophie und Hans verschiedene Visionen, die sie gleichzeitig zum Ausdruck bringen. Sophie sieht sich mit einem Kind im Arm unter sengender Sonne einen Berg hinaufsteigen, sieht sich abstürzen, legt davor das Kind in den kalten Schnee, aber es lebt. Hans hört einen Trommler, aber „dass doch Augen wären dies Trommeln zu sehn, wenn das Ohr den Ton nicht erkennt.“

In der vorletzten Szene Nr. XV tauchen in Sophie ihre ersten Empfindungen wieder auf: „Gib Licht meinen Augen oder ich entschlafe des Todes.“ Und sie ergänzt: „und mein Feind könnte sagen, über den ward ich Herr.“ Hans wiederholt bloß diesen zweiten Satzteil gleich einem Echo und nochmals, aber jetzt nur mehr: „über den ward ich Herr“.

In der letzten Szene „Nicht schweigen, nicht mehr schweigen“ hören sie sich einer fanatisierten, lärmenden Menschenmasse gegenüber: Ihre warnenden Worte zuerst ruhig gesprochen, dann rufend, zum Schluss schreiend, werden nicht gehört, ersticken im tausendfachen Schrei der Menschenmenge.

Die „Szenen“ sind eindringlich, ausdrucksstark, beschwörend, aber keine „Große Oper“, deshalb weicht man selbst bei Stadttheatern auf Nebenbühnen aus. Sechs Aufführungen fließen in unsren Bericht ein. Diese sind oft über fünfundzwanzig, ja sogar länger als dreißig Jahre her. Viele der ProtagonistInnen geben heute an Hochschulen ihre früheren Erfahrungen weiter.

Das Tiroler Landestheater übernahm die Inszenierung der „Wiener Staatsoper im Künstlerhaus“ von Heinz Lukas-Kindermann, Regisseur mit österreichischen Wurzeln, und wählte einen idealen Ort, das ORF Landesstudio Tirol, das in seiner Serie „Musik im Studio“ sich der Pflege moderner Musik von Arnold Schönberg aufwärts verschrieb. Schon architektonisch gefällt uns dieser Aufführungsort. Der Tiroler Komponist Martin Lichtfuss übernahm die musikalische Leitung.

Die Besetzung von Sophie und Hans Scholl wurde von der Wiener Aufführung übernommen. Die Sopranistin Gabriele Fontana und der hohe Bariton Wolfgang Holzmair setzten für die weiteren Begegnungen mit diesem Werk hohe Maßstäbe. Holzmair lockte uns mit einem Liederabend in den Grazer Stefaniensaal, in welchem uns sein charakteristischer lyrischer Stil wieder gefiel.

Angelika Luz (Salzburger Landestheater), in den Kammerspielen und Ingrid Habermann (Landestheater Linz) im Posthof Linz, einem denkmalgeschützten Bauernhof im Hafenviertel, vermochten in der hohen Sopranpartie Gabriele Fontana würdig zu vertreten. Im Posthof hörten wir zum ersten Mal den Hans in der „ossia“-Variante vom Tenor Kurt Azesberger gesungen. Die beiden Alternativen sind überwiegend unisono notiert. So bleibt die Bariton-Variante sehr hoch, mit unzähligen Hilfslinien oberhalb der Linien des Notensystems. Ein Bariton wirkt dadurch beim Singen etwas angestrengt. Nur dreimal springt der Bariton eine Oktav tiefer und nur einmal erhebt sich der Tenor um einen halben Ton über den Stimmumfang der Baritonpartie.

Meine Lieblingsmusik 31: Zeitgemäße Musik – der Soundtrack zur Krise (III): WAHNSINN!

Nach Wien, Salzburg, Innsbruck und Linz erlebten wir im März 1998 die französische Erstaufführung en français in Lyon. Leider hatten wir dabei nicht die Gelegenheit die modernisierte Innenarchitektur des Operngebäudes kennenzulernen. Man hat es passender gefunden das Stück im „Centre d’Histoire de la Résistance et de la Déportation“ zu präsentieren. Vor Beginn verstand Sylvia arrogante Bemerkungen zwischen dem Publikum untereinander, warum wir überhaupt mit so mangelhaften Französischkenntnissen hierher kämen. Wie viele waren wohl darunter, welche „La Rose blanche“ zum fünften Mal erlebt haben? Nicht schlecht gestaunt haben nachher diese scharfzüngigen Spötter. Wir kamen mit dem Intendanten ins Gespräch, der vor uns eine höfliche Verbeugung machte, als er erfuhr, dass wir wegen der Erstaufführung von Wien angereist waren.

Mit Marie Devellereau, einer Juilliard-Schülerin, deklariert als leichter lyrischer Sopran und dem Bassbariton Laurent Alvaro war eine würdige Besetzung aufgeboten, doch waren sie durch die Abende mit Fontana, Luz, Habermann und ihren Partnern, psychologisch vielleicht verständlich, etwas überdeckt. Übrigens hatte der Hausregisseur Stephan Grögler in Wien Regie studiert.

Es ist jetzt auch schon achtzehn Jahre her, dass wir wegen der „Weißen Rose“ eine Reise in die oberfränkische Stadt Hof unternahmen. Bei der Unterkunftsanmeldung merkte man, wie stolz die „Hofer“ auf ihre Biedermeierstadt sind. Hof hat, wie wir sahen, auch einen Namen als Theater- und Musikstadt. Wie es der Zufall wollte, als wir beim Theater die Karten abholten, trafen wir auf den Intendanten, der uns liebenswürdig eine Türe zum Auditorium mit Blick auf die Bühne öffnete. Wir bedauerten wieder einmal, dass für die „Weiße Rose“ ein andrer Spielort ausgesucht wurde.

Ein Kirchenraum, wie in der evangelischen St. Lorenz-Kirche scheint im ersten Moment sehr geeignet zu sein, aber während der Aufführung überlegten wir, ob nicht in einem katholischen Kirchenraum, auch wenn die Geschwister Scholl der evangelischen Kirche angehörten, die In-Szene-Setzung besser gelingen würde. Zugegeben, die Kanzel im Mittelpunkt kann das Nicht-Schweigen-Dürfen gut versinnbildlichen, aber die Innenarchitektur einer katholischen Kirche besitzt durch die andere Art des Gottesdienstes etwas Theatralisches, schon die früher vorgeschriebenen drei Stufen zum Altar lassen sich in das Handlungsgeschehen, auch wenn es ein Inneres ist, vortrefflich einbeziehen.

Mit den Karten in der Tasche und dem Programmheft in der Hand machten wir einen Spaziergang durch einen Park. Unbekannte Namen las ich auf dem Besetzungsblatt. Wird Ingrid Katzengruber die oft über Takte hinweg hohen Töne von einem a“ bis zu einem c“‘ schaffen? Etwas mulmig fühlend musste ich mich eine Weile auf eine Parkbank setzen. Die Grazerin enttäuschte nicht! Mit Thilo Andersson hörten wir zum zweiten Mal einen tenoralen Bruder Hans. Im äußersten Nordosten des Frankenlandes trafen wir auf den Wiener Dirigenten Philipp Pointner, der die Hofer Symphoniker leitet, denen ein sehr guter Ruf vorauseilt. Musik- und Kulturpflege wird in dieser 45.000 Einwohner-Stadt an der Saale hoch gehalten.

Endlich war es so weit. Anlässlich eines Besuchs unsrer Nichte, die in Berlin lebt, vereinbarten wir bei der Sekretärin Udo Zimmermanns einen Termin. Dass der verehrte Komponist damals gerade Generalintendant der Deutschen Oper Berlin war, mussten wir ausnützen. Beim Telefonat mit der Sekretärin noch von Wien aus gewann ich den Eindruck eines dicht gepackten Terminkalenders, wir erhielten zehn Minuten.

Als wir dann in sein Arbeitszimmer eingelassen wurden, begrüßte uns ein Mann, den wenigstens ich mir aufgrund seines Werks ganz anders vorgestellt hatte. Wir können das nicht näher erklären. Auf der anderen Seite kam mir der Komponist bekannt vor. Kein Wunder, hatte er doch damals im Wiener Künstlerhaus sein Werk selbst dirigiert. Er hätte sich nach unsrem Empfinden mehr Zeit gelassen, wir berichteten ihm, dass wir kommenden Monat nach Hof fahren werden. Es war eigenartig, irgendwie waren beide Teile, der Generalintendant und wir verlegen. Als er uns in den mitgebrachten Klavierauszug eine nette Widmung schrieb, fragte er uns, ob wir Autografen sammeln.

Nach dem Termin waren wir mit unsrer Nichte vis à vis der Oper zu einem Kaffee verabredet und konnten unsre Enttäuschung nicht ganz verbergen. Irgendetwas war bei unsrer mit Vorfreude erwarteten Begegnung mit dem Komponisten nicht zur Sprache gekommen.

Lothar und Sylvia Schweitzer, 23. Mai 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Lothar und Sylvia Schweitzer

*Beitragsbild: Von Astrid Ackermann – Pressefoto, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=27112984

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