Hamburgische Staatsoper (Martin Haller 1873/74), Abriss der erhaltenen Fassade 1953 und Neubau bis 1955 (Gerhard Weber), Fotos: Hamburg-bildarchiv.de, R. Wegner
„Hoffmanns Erzählungen“ gehört nicht zu den Opern, die an der Hamburgischen Staatsoper häufiger aufgeführt wurden. Wenn meine Unterlagen stimmen, die letzten 40 Jahre kumuliert nur an 7 Jahren. Dabei ist diese Oper des Kölner Komponisten Jacques Offenbach (1819-1880), der in Paris berühmt wurde, beim Publikum ungemein beliebt.
von Ralf Wegner
Ernst Theodor Amadeus (E. T. A. ) Hoffmann (1776-1822), Jurist, Kapellmeister und einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller, schrieb emotional fesselnde, vor Leidenschaft berstende Schauerromane, in denen sich Realität und Zauberisches vermengen und die Protagonisten manchmal nur knapp dem unter der Oberfläche lauernden Bösen entgehen. Basierend auf einer Hoffmann-Adaptation der französischen Autoren Jules Barbier und Michel Carré aus dem Jahre 1851 befasste sich Jacques Offenbach musikalisch mit dieser geheimnisvollen, unheimlichen Zwischenwelt. Die erst nach seinem Tod im Jahre 1881 uraufgeführte, unvollendet gebliebene Oper führt nach einem Prolog mehrere hochromantische Erzählungen Hoffmanns in drei Akten zusammen, den Geschichten Der Sandmann, Rat Crespel und jener vom verlorenen Spiegelbild aus Die Abenteuer der Sylvesternacht. Danach folgt noch ein Epilog. Prolog und Epilog werden häufig auch als 1. und 5. Akt angezeigt.
Bindeglied der Erzählungen ist der Dichter Hoffmann, der in einer Weinstube auf seine Geliebte wartet und, bei zunehmender Trunkenheit, die dort versammelten Gäste mit seinen Liebeserlebnissen unterhält. Der folgende erste, der Olympia-Akt, fußt auf der Geschichte vom teuflischen Sandmann, der „zu den Kindern kommt, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen und wirft ihnen händevoll Sand in die Augen, dass sie blutig zum Kopf herausspringen.“ Der so als Kind geängstigte Protagonist Nathanael erlebt, wie der Advokat Coppelius (auch Coppola), genannt Sandmann, seinen Vater ermordet. Jahre später erblickt er bei dem an der Universität lehrenden Naturforscher Spalanzani ein hübsches Mädchen, genannt Olimpia. Coppelius verkauft ihm eine Brille, die Olimpia Lebendigkeit verleiht. Auf einem Fest verliebt sich Nathanael in Olimpia, findet diese aber später auf dem Boden liegend als Puppe mit herausgerissenen Augen wieder. Spalanzani hatte das Räderwerk für diese Puppe entwickelt und wurde wegen des Betrugs von der Universität verwiesen: „Juristen nannten es sogar einen feinen und umso härter zu bestrafenden Betrug, als er gegen das Publikum gerichtet und so schlau angelegt worden, dass kein Mensch (ganz kluge Studenten ausgenommen) es gemerkt habe, unerachtet jetzt alle weise tun und sich auf allerlei Tatsachen berufen wollten, die ihnen verdächtig vorgekommen.“ Die Geschichte geht noch weiter, bleibt bei Offenbach allerdings unberücksichtigt: Nathanael kehrt zu seiner früheren Verlobten Clara zurück, setzt sich eine ihm von Coppelius gegebene Brille auf, verkennt daraufhin Clara als Holzpuppe und versucht diese von einem Turm zu stürzen. Clara wird von ihrem Bruder Lothar gerettet. Als Nathanael unten in der Menge Coppelius erblickt, stürzt er sich vom Turm.
Der zweite, der Antonia-Akt, beruht auf der Erzählung Rat Krespel. Der Jurist, Violinensammler und Forscher Krespel hütet nach dem frühen Tod seiner Frau, einer italienischen Sängerin, seine an einem „organischen Brustfehler“ leidende Tochter Antonie. Dieser Fehler gab „ihrer Stimme die wundervolle Kraft und den seltsamen, über die Sphäre des menschlichen Gesangs hinaustönenden Klang.“ Der Ich-Erzähler hört Antonie singen: „Nie hatte ich eine Ahnung von diesen lang angehaltenen Tönen, von diesen Nachtigallwirbeln, von diesem Auf- und Abwogen, von diesem Steigen bis zur Stärke des Orgellauts, von diesem Sinken bis zum leisesten Hauch. Nicht einer war, den der süße Zauber nicht umfing.“ Antonie verliebt sich in einen Komponisten, bei dem sie sich zu Tode singt.
Der dritte Akt spielt in Venedig. Die Basis ist komplex. E. T. A. Hoffmann griff u.a. auf ein Kunstmärchen des Dichters Adelbert von Chamisso zurück. Darin wird von einem Mann namens Peter Schlemihl berichtet, der im Tausch für einen nie versiegenden Geldbeutel seinen Schatten verkauft. Hoffmann verknüpft diese Geschichte mit jener von Erasmus Spikher, der in Italien die schöne Giulietta erobert, dafür aber sein Spiegelbild hergibt. Nach der Tötung eines Nebenbuhlers entzieht sich Spikher mit Hilfe des Wunderdoktors Dapertutto der Verfolgung. Der Epilog der Oper zeigt einen volltrunkenen Hoffmann, der von seiner angebeteten Sängerin Stella verschmäht wird und sich seiner Muse Niklausse zuwendet.
Die einzige von mir gesehene, dem hochromantischen Thema gerecht werdende Inszenierung war jene von Leopold Lindberg, die von 1961 bis zur Saison 1972/73 gespielt wurde. Wenn ich mich recht erinnere, beeindruckte damals auch die Bühnentechnik, denn die im Keller liegende Weinstube wurde zu Beginn des 1. Aktes heruntergefahren und gab einem realistischen Olympia-Saal Raum. Wenngleich der Sänger des Hoffmanns Arturo Sergi seinen sängerischen Zenit damals schon überschritten hatte, wurde mit Lawrence Winters ein außergewöhnlich herausragender Bariton für die Rolle des Lindorf/Coppélius/Mirakel/Dapertutto eingesetzt. An seine frei dahinfließende, überaus glanzvoll gesungene Spiegelarie erinnere ich mich noch heute. Auch die Rollen von Olympia, Antonia und Giulietta waren mit Maria Kontou, Arlene Saunders und Colette Lorand adäquat besetzt, Elisabeth Steiner passte optisch und stimmlich gut zum Niklausse. In dieser Inszenierung sang auch Louisa Bosabalian eine herausragende Antonia.
Jürgen Flimm (1981-1983) verpflanzte die Geschichte um Hoffmann meiner Erinnerung nach in eine Irrenanstalt. Das mag interpretatorisch nicht unplausibel sein, missachtet aber die hinter dem Thema stehende, nicht konkretisierbare, zwischen Himmel und Erde angesiedelte Schauerromantik. Neil Shicoff sang einen herausragenden Hoffmann und fühlte sich gut in die Rolle des eingesperrten Irren ein. Im Internet ist seine sängerische und darstellerische Leistung als Hoffmann mit der Erzählung des Kleinzack dokumentiert (aus New York, Link siehe Bildunterschrift). Simon Estes trug als Dapertutto ebenfalls zum Gelingen der Aufführung bei. Seine machtvolle, strahlkräftige Stimme verfügte über das notwendige diabolisch Finstere der Rolle im mittleren und unteren Frequenzbereich des Baritons, am Ende der Spiegelarie aber auch über berauschenden Höhenglanz, wie man auf einer bei YouTube eingestellten Höraufnahme des Züricher Opernhauses vom 6.9.1980 nachvollziehen kann (Link Bildunterschrift).
Im Gegensatz zur letzten Inszenierung von Christine Mielitz (2007-2008), die sich aus meinem Gedächtnis völlig verflüchtigt hat, blieb mir jene von Andreas Baesler (1999-2000) in Erinnerung. Die gesamte Oper spielte in einer realistisch nachgebauten Pariser Metrostation mit Halbtonnengewölbe. Für die erzählerischen Akte öffnete sich die große Reklametafel und gab begrenzten Einblick in die jeweilige Szenerie. Die Sängerin der Olympia (Hellen Kwon) wurde allerdings in den Orchestergraben verbannt. Marcus Haddock und Jean-Pierre Furlan beeindruckten als Hoffman, Wolfgang Schöne sang einen guten Bösewicht, noch übertroffen von Laurent Naouri. Danielle Halbwachs war als Antonia sehr gut, vor allem im Zwiegesang mit Katja Pieweck als ihre Mutter. Die Partie der Mutter füllte 2007/08 auch Deborah Humble gut aus, die Rollen der Olympia, Antonia und Giulietta wurden herausragend von Elena Moșuc gesungen und gespielt.
Auf YouTube sind mehrere komplette Aufführungen der Oper Hoffmanns Erzählungen zugänglich. Erwähnen möchte ich eine szenisch bemerkenswerte Wiener Inszenierung von Andrei Șerban mit Dmitry Korchak, Olga Peretyatko und Luca Pisaroni (2019, Dirigent Frédéric Chaslin) (https://www.youtube.com/watch?v=wK3OmKepUNU). Musikalische Höhepunkte der Oper Hoffmanns Erzählungen sind, hier mit Zeitangabe (Stunde:Minute) der Wiener Aufführung:
1. Hoffmanns Ballade für Tenor vom Kleinzack im Prolog „Es war einmal am Hofe von Eisenack“ („Il était une fois à la cour d’Eisenach“) / 0:18,5
2. Arie der Olympia für Sopran im 2. Akt „Phöbus stolz im Sonnenwagen“ („Les oiseaux dans la charmille“) / 0:54,5
3. Arie der Antonia für Sopran im 3. Akt „Sie entfloh, die Taube so minnig“ („Elle a fui, la tourterelle“) / 1:15
4. Kurzauftritt der Mutter (Mezzosopran, Alt) im 2. Akt („Antonia“) / 1:51,5
5. Die Barcarole im 3. Akt für Sopran und Mezzosopran „Schöne Nacht, oh Liebesnacht“ („Belle nuit, ô nuit d’amour“) / 2:01
6.Arie des Dapertutto für Bariton im 3. Akt „Leuchte heller Spiegel mir und blende ihn mit deinem Schein“ („Scintille, diamant“) / 2:09
7. Das Septett (Hoffmann, Dapertutto, Giulietta, Niklausse, Schlemihl, Pitichinaccio und Chor) „Ach, mein Herz verirrt sich schon wieder!“ (Hélas! Mon coeur“) / 2:21,5
Ralf Wegner, 24. März 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Jacques Offenbach, La Belle Hélène (Die schöne Helena), Staatsoper Hamburg, 17. Mai 2019
Jacques Offenbach, Les Contes d’Hoffmann, Bayerische Staatsoper, München, 15. Oktober 2019
Jacques Offenbach, Les Contes d’Hoffmann, Premiere, Deutsche Oper Berlin
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