Foto: Elbphilharmonie Hamburg, Dr. Holger Voigt (c)
Saisoneröffnung: Eröffnungskonzert
Elbphilharmonie Hamburg, 1. September 2020
NDR Elbphilharmonie Orchester, Leitung: Alan Gilbert
Lisa Batiashvili, Violine
Sergej Prokofjew: Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 D-Dur op. 19
Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 73
von Dr. Holger Voigt
Da ist dem Intendanten der Elbphilharmonie Hamburg, Christoph Lieben-Seutter, ein riesiger Felsbrocken von der Seele gefallen!
Da war er endlich – der große Tag des Wiederbeginns, und alles lief gut bis bestens! Die Erleichterung war ihm im Gesicht abzulesen, und sie mischte sich kontinuierlich mehr mit Begeisterung. So lange hatte man geplant, alle möglichen Sicherheitsauflagen studiert, durchforstet, angepasst und Zug um Zug reale Umsetzungspläne geschmiedet, wohl wissend und genauso fürchtend, dass urplötzlich alles wieder Makulatur sein könnte, wenn sich der Drive der Pandemie wieder verstärken sollte. Und die MusikerInnen erst! Immer in der Hoffnung, endlich – endlich! – wieder spielen zu dürfen und vor einem leibhaftigen Publikum auftreten zu können. Große Erwartungsspannung schwebte über dem neuen Wahrzeichen Hamburgs und harrte der Manifestation.
628 Besucherplätze konnten und durften verkauft und besetzt werden. Gesperrte Sitze waren durch ein aufgeklebtes Symbol deutlich gekennzeichnet. Viele Sitze waren blockiert, jeweils gefolgt von zumeist 2-er Gruppen zugelassener Sitzplätze. Optisch ergab sich ein Bild einer lockeren, aber regelhaft erscheinenden Saalverteilung. Summa summarum war das etwa ein Drittel – natürlich keine anzustrebende Zukunftsvision. Doch der erste Schritt musste ja erst einmal getan werden, und das fand nun wirklich und „anfassbar“ statt. Allein das war schon ein Anlass der Freude, die Musikern wie Publikum an den Gesichtern abzulesen war. Der Konzertbetrieb läuft wieder, der große Tanker Elbphilharmonie hat Fahrt aufgenommen – endlich!
Viele Anpassungen waren im Detail versteckt. Natürlich gab es Maskenpflicht auf allen Wegen bis zum Sitzplatz. Zudem galt natürlich das Abstandsgebot, das aber beim Verlassen der Elbphilharmonie nach dem Konzert schon auf der Rolltreppe nur sporadisch Beachtung fand. Die Garderobe war geschlossen, der Zugang zu den Toiletten durch Abstandsgebot reguliert. Auch in den Foyers der Einzeletagen standen Desinfektionsspender zur freien Benutzung. Der Getränkeausschank war auf eine Etage limitiert. Mir fiel noch auf, dass die Anzahl der Sitzgelegenheiten höher war als bei meinem letzten Besuch. Obwohl noch immer zu wenige Sitzgelegenheiten auf den Foyers angeboten werden, meinte ich, dahinter auch eine Maßnahme des Infektionsschutzes erkennen zu können: Wer sitzt, geht nicht fortwährend herum und steckt dabei andere an. So würde ich das zumindest sehen wollen.
Sehr auffällig die sicherheitsbetonte Anordnung der MusikerInnen auf dem Podium. Konnte bei einer derartig weitläufigen Anordnung noch so etwas wie ein Zusammenklang herauskommen? Es konnte! Natürlich gab es technische Hilfsmittel in Hülle und Fülle (Einzelmikrophone), aber dieses diente auch der Übertragung im Lifestream, die im Internet oder Rundfunk zu genießen war.
Im ersten Teil des Abends gab es das Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 D-Dur op. 19 von Sergei Prokofjew (1891 – 1953), das dieser 1915 – 1917 komponierte, welches aber erst am 18.10.1923 in Paris uraufgeführt wurde. Es ist dreisätzig und dabei ausgesprochen kurz (etwa 25 Minuten), aber gespickt mit technischen Schwierigkeiten, weshalb nur die besten ViolinistenInnen in der Lage sind, dieses anspruchsvolle Konzert vortragen zu können.
Lisa Batiashvili, die 41-Jährige in Georgien geborene Violinistin, gehört fraglos zu den weltbesten InterpretenInnen dieses Werkes. Sie hat es schon viele Male gegeben und damit brilliert. Und genau das war auch hier am heutigen Abend wieder der Fall.
Lisa Batiashvili
Dieses zunächst befremdlich erscheinende Konzert wird man vielleicht nicht auf Anhieb lieben können, auch wenn man nicht umhin kommt, seine musikalische Architektur zu bewundern. Doch bereits beim zweiten Hören wird man sich diesem Werk viel näher fühlen und seine eigentliche Schönheit bewundern lernen. In der Tat handelt es sich um einen kompositorischen Mikrokosmos, der an Einfallsreichtum und Originalität nur so sprüht. Prokofjew ist ein Geschichten erzählender Klangverführer, der es offenbar gut versteht, den Zuhörer zunächst auf falsche oder ungewohnte Fährten zu führen, deren überraschende Wendungen von diesem nicht annähernd antizipiert werden können. Genau deshalb sollte man es mehrere Male gehört haben, weil sich erst dann der ganze Einfallsreichtum in seiner Gesamtheit erschließen kann.
Der erste Satz, Andantino – Andante assai überschrieben, beginnt hauchartig im pianissimo mit einem Streichertremolo, in welchem sich die Violine erhebt und ihr anmutiges Thema aufsteigen lässt, das von Flöte, Oboe und Klarinette umrahmt wird. Dieser Anfang erfolgte hier am heutigen Abend derart intim klingend, dass es von der ersten Sekunde an das Publikum in den Bann zog. Dabei entwickelt sich die Violine alsbald als eine Art instrumental sprechende Stimme im Dialog mit einzelnen Instrumenten des Orchesters – sie erzählt, das Orchester lauscht und kommentiert. Die Dominanz der Solovioline ist beständig. Bereits hier ausreichend Möglichkeiten der Solistin zu glänzen, während ein marschartiger Rhythmus die Basis dazu bildet. Abrupt markiert die Soloflöte eine Änderung des Geschehens. Während die Violine nun in pizzicato wechselt und dabei ihre Dominanz zurücknimmt, ist die Flöte nun an der Reihe zu erzählen. So als hätte die Violine nur darauf gewartet, wieder die dialogische Dominanz zu übernehmen. Und diese ist mächtig und klingt geradezu aggressiv. Es ist wohl eine Art Streitgespräch, das sich hier Bahn bricht und dem wir lauschen. In atemberaubender Temposteigerung und Virtuosität der Solistin fliegen nunmehr die Fetzen, bis dann wieder ruhigeres Fahrwasser erreicht ist und die Violine sich wieder ihr Territorium zurückerobert hat. Fast kathartisch friedlich und in sphärische Höhen kletternd, dabei von der Flöte kommentierend begleitet, geht dieser Satz zu Ende.
Der zweite Satz, überschrieben Scherzo: Vivacissimo, ist ein sehr kurzer, aber geradezu entfesselt und furios mit allerhöchster Virtuosität zu spielender Satz, der die unglaublichen Qualitäten Lisa Batiashvilis vor Augen und Ohren führt. Musste man bereits nach dem ersten Satz tief durchatmen, so machte dieser zweite Satz geradezu sprachlos. Hier jagen sich die Kontraste, unvermittelte Eruptionen und Wendungen voller sarkastisch anmutender Themenfetzen – all dies mit absoluter, bestaunenswerter Perfektion vorgetragen. „Vivacissimo“ – das sagt alles: Schnell und ironisch, zuweilen schnippisch, dann wieder stampfend-aggressiv – es handelt sich hier um eine fast handgreifliche Auseinandersetzung, bei der die Violine die Oberhand behauptet. Ich habe diesen Satz noch nie derart meisterhaft vorgetragen erlebt!
Im dritten Satz, Moderato – Allegro moderato – Moderato – Più tranquillo, scheinen sich die Gemüter zu beruhigen. Allein die Vortragsbezeichnungen – 3 mal „moderat“ – scheinen dieses zu belegen. Der Satz eröffnet mit einem von den Fagotten gespielten metronomhaften Rhythmus, der an Prokofjews „Romeo und Julia“ erinnert. Die Solovioline hält sich dabei zurück und steigt erst verzögert ein. Sie entwickelt über dem Orchester ein melodisches, schönklingendes Thema, das in seiner Dominanz unstreitig ist. Ein rhythmischer Wechsel zu einem lebhafteren Violinthema verändert die grundsätzlich friedliche „Ruhe nach dem Sturm“ nicht. Fast tänzerisch leicht artikuliert sich die Solovioline über einer satten sinfonischen Basis. Es sind nunmehr keine Einzelinstrumente mehr, die mit der Solovioline kommunizieren, die sich ihrerseits nunmehr in Harmonie mit dem Orchester versöhnlich zeigt. Dabei entstehen spätimpressionistische Klangfarben voller Schönheit. Unter Tempoverlangsamung steigt die Solovioline immer höher hinauf und verdämmert in der Unendlichkeit.
Eine grandiose Darbietung Lisa Batiashvilis! Tosender Beifall und zahlreiche Bravo!-Rufe für diese bewundernswerte Leistung von Solistin und Orchester. Das hatte Referenzqualität! Wohl aus Pandemiesorge gab es keine Standing Ovation. Sie wäre aber angebracht gewesen und fand vermutlich im virtuellen Vorstellungsraum statt.
Nach einem „Maskenintermezzo“ gab es eine Zugabe, die es in sich hatte: Das „Largo“-Motiv aus Antonín Dvořáks neunter Sinfonie, derart innig und klangschön vorgetragen, dass es das Publikum zu Tränen rühren konnte.
Im zweiten Programmabschnitt kam ein gebürtiger Hamburger zu Gehör. Jedes Hamburgische Orchester ist mehr oder weniger ein Brahms-Orchester. Die Musik des großen Sohnes der Hansestadt gehört praktisch zur Hamburger DNA. Alan Gilbert wählte für diesen Konzertabend die Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 73 aus, die in ihrer Struktur und musikalischen Ausdruckskraft von lichter Heiterkeit erfüllt ist.
Der erste Satz, Allegro non troppo, führt in ein reichhaltiges thematisches Spektrum ein. Die Sinfonik Johannes Brahms’ ist auch in den dramatischen Anteilen nie von niederdrückender Tristesse geprägt; sie lässt sich nicht mit Trauer überziehen.
Die Streicher eröffnen und schaffen eine friedliche Grundstimmung, die von dem zutiefst romantischen Klang der Hörner (leider hier und an anderen Stellen mit deutlichen Intonationsschwächen) geschaffen wird. Holzbläser und Streicher entwickeln ein hymnisch anmutendes Grundmotiv, dessen Verarbeitung durch verschiedene Instrumentengruppen durchgereicht wird. Das Orchester zeigt dabei im Gesamtklang eine atmende, feinkalibrierte Durchsichtigkeit, wie sie für die sinfonischen Werke Brahms’ charakteristisch ist.
Die im schwingenden Fluss sich ineinander entwickelnden thematischen Grundmotive, unterbrochen durch dynamisch betonte Wendungen, lassen die wellenartige Grundbewegung unangetastet. Bereits hier fällt auf, dass Alan Gilbert Tempo macht, um den Fluss nicht abbrechen zu lassen. Das Orchester folgt diesem Fluss und zaubert dabei sinfonischen Schönklang herbei.
Der zweite Satz, Adagio non troppo – L’istesso tempo, ma grazioso, beginnt nur scheinbar getragen, denn die Holzbläser senden bereits andere Signale. Schon bald klingen dann auch die Streicher wieder voller Zuversicht und schwelgen alsbald im sinfonischen Schönklang, der wie ein friedliches Innehalten imponiert. Trotz langsamen Tempos achtet Alan Gilbert darauf, dass es nicht zu langsam wird. Dieses ist erst wieder der Fall sein, wenn am Satzende eine friedvolle Grundstimmung entstanden ist.
Tänzerisch licht und leicht kommt der kurze dritte Satz, Allegretto grazioso – Presto ma non assai – Tempo I, daher, was den MusikerInnen ein Lächeln auf die Gesichter zaubert. Gelegenheit für die Holzbläser zu glänzen.
Der vierte Satz, Allegro con spirito, baut mit dynamischer Verve innerhalb nur weniger Sekunden ein vielfältiges Themengebäude auf, dessen Verarbeitungen an Dichte und Explosivkraft scheinbar grenzenlos zu sein scheinen. Ein entfesselter Alan Gilbert treibt und treibt das Orchester an, zuweilen wie ein degenfechtender Preisboxer imponierend. Voller Körpereinsatz lässt er keine Erlahmung zu, ununterbrochen sitzt er dem Orchester metaphorisch im Nacken und befeuert den Lauf der Dinge. Das ist das hanseatische Pendant zur ‚Italianità’ (mir fällt nur kein entsprechender Ausdruck ein)! Ein energetisch explodierender Alan Gilbert treibt das Orchester in einen triumphal-majestätischen Höhepunkt der Sinfonie: Ein wahrer Homerun!
Riesiger Beifall und Bravo!-Rufe für überglückliche MusikerInnen und einen völlig ausgepowerten, aber tief berührten Dirigenten! Dieser wurde später noch einmal auf das Podium gebeten und gab mit dem Orchester als Zugabe den „Ungarischen Tanz“ vom gleichen Komponisten.
Nach dem Konzert gab es für alle ein Gläschen Sekt, das für das Publikum direkt am Platz serviert wurde. In seinen Abschlußbemerkungen des Intendanten Christoph Lieben-Seutter und im Gespräch mit dem Chefdirigenten des NDR Elbphilharmonie Orchesters, Alan Gilbert, dem Kultursenator der Freien und Hansestadt Hamburg, Dr. Carsten Brosda, sowie dem Intendanten des Norddeutschen Rundfunks, Joachim Knuth, war man allseits bestrebt, die sichtbare Euphorie nach diesem bewegenden Konzert nicht unangemessen hoch schnellen zu lassen. Keinesfalls sollten zu hohe Erwartungen an die Politik geweckt werden, schließlich ist es ja erst die Stunde 0 der Wiedergeburt. Aber Mut machte das alles schon. Reichlich viel Mut!
Dr. Holger Voigt, 3. September 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at