Foto: Kate Lindsey als Orlando, Leigh Melrose als Shelmerdine/Greene
© Wiener Staatsoper GmbH / Michael Pöhn
Wiener Staatsoper, 8. Dezember 2019
Olga Neuwirth, Orlando
Libretto Catherine Filloux und Olga Neuwirth
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Es ist uns zum ersten Mal passiert. Etwas ratlos sitzen wir vor der Niederschrift unsrer Rezension. Wir sind der Meinung, dass die Komponistin Olga Neuwirth gemeinsam mit ihrer Co-Librettistin Catherine Filloux zu viele Gedanken aus dem gleichnamigen Roman von Virginia Woolf mit ihren persönlichen Interpretationen durchwirkt in ihr Opus magnum hinein verfrachtet hat. Wir werden an den Ausspruch Kaiser Josephs II. an Mozart erinnert: „Allzu viele Noten, lieber Mozart.“
Orlando ist ein Peer Gynt, der auf der Suche nach seiner Individualität und Identität ist, er hat auch Ähnlichkeit mit Emilia Marty („Vĕc Makropulos“), die Erfahrungen über Jahrhunderte hat, aber nur als Frau, während Orlando vom Mann zur Frau wird und dadurch sein Lebensspektrum um eine Dimension erweitert, auch wenn er/sie immer wieder zur Bestimmung als Dichter(in) zurückkehrt.
Wir beurteilten im Voraus einen Narrator als dramaturgisch ungeschickten Trick einer Dramatisierung eines Romans. Dieses Vorurteil hielt sich noch bei der Lektüre des Librettos. Wir mussten jedoch unmittelbar am Ort des Bühnengeschehens unsre Meinung revidieren. Abgesehen davon merkte man bei Anna Clementi auch in der Sprechrolle ihre sängerische Ausbildung.
Entbehrlich fanden wir die Einführungen eines Schutzengels und eines Putto, die wir bei Olga Neuwirth gar nicht erwarten. Obwohl der Countertenor Eric Jurenas (Guardian Angel) eine glanzvolle stimmliche Leistung bot und Emil Lang (Putto) als Mitglied der Opernschule der Wiener Staatsoper in solistischer Verwendung nicht zum ersten Mal öffentlich positiv auffiel.
Projektionen und filmischen Inszenierungen stehen Puristen, vor allem Befürworter halbszenischer Aufführungen skeptisch gegenüber. Das Visuelle könnte das Akustische verdrängen. Auch wenn diese Gefahr besteht, sind wir der Überzeugung, dass Dichter und Komponisten, die vor Entdeckung des Kinematographen ihre Werke verfassten, von den erweiterten Möglichkeiten begeistert gewesen wären. Warum muss ein Bühnenbild statisch sein?
Am Rande bemerkt hatte Bernadette Soubirous die schon zu ihren Lebzeiten errichteten Lourdesgrotten gerade wegen ihrer Statik nie autorisiert. Die Landschaftsprojektionen entsprechen treffend den Landschaftsbeschreibungen im Roman. Zu dem ins Irreale sich versteigenden Inhalt passen die fantastischen Kostüme und Masken der Modefirma „Comme des Garçons“ der Japanerin Rei Kawakubo. Sie erinnern uns an das japanische Nō-Theater. Zu sehr sind wir schon in der Oper an das Grau in Grau von Alltagskleidungen und von abgetragenen Gewändern gewöhnt.
„Orlando“ ist auch eine Chor-Oper. Ohne befähigte Chorgruppen ist das Werk nicht aufführbar. Eine weitere Schwierigkeit und Hürde besteht in der Besetzung des Orlando, dessen Tessitura als Mann und als Frau verschieden ist. Es wäre falsch, es sich hier leicht und stimmlich optimal machen zu wollen und zwei Sängerinnen (einen Kontra-Alt und einen Mezzo) einzusetzen. Kate Lindsey wurde in der Titelrolle zum Star des Abends. Als Mann noch in jünglingshafter Verhaltenheit blühte ihr Mezzosopran nach der Verwandlung richtig auf.
Seine erste große Liebe wurde die geheimnisvolle und kühle russische Fürstin, die er Sasha nennt. Sie wird von der Schwedin Agneta Eichenholz, einer hervorragenden Richard-Strauss-Interpretin, gesungen. En vogue sind farbenreiche Stimmen. Ihr hoher Sopran besitzt weniger Farben, zeichnet sich dafür zur Rolle passend durch klare Schönheit aus. Einige Szenen später hat sie in ihrer zweiten Rolle in Gestalt der Keuschheit neben den Damen Reinheit (Constance Haumann) und Bescheidenheit (Margaret Plummer) im kurzen Dreigesang souverän die führende Stimme inne. Und wenn zum Schluss des Stücks in der Erinnerung Orlandos seine/ihre früheren WeggefährtInnen gleichsam als Teile seines/ihres Ichs im Tutti ihre Stimmen erheben, so ist ihr Sopran unaufdringlich, aber deutlich auszunehmen.
Als Sensation konnte man auch das Debüt von Leigh Melrose bezeichnen, unser zukünftiger Alberich, der den skurrilen Dichter Green, das enttäuschende Idol Orlandos, und als zweite markante Partie den Shelmerdine, ihren Ehemann sang. Von den zwei kurz auftretenden Terzetten (Ärzte- und Dichterterzett) mit Wolfram Igor Derntl, Hans Peter Kammerer, Ayk Martirossian sowie Markus Pelz, Christian Miedl, Carlos Osuna empfahl sich besonders der Mexikaner für weitere besondere Aufgaben. Wolfgang Bankl gab dem von Orlando verschmähten Herzog ebenfalls ein ausgeprägtes Profil.
Die Dramatisierung eines epischen Werks mit seinen abweichenden Gesetzen kann heikel werden. Szenen können durch gewollte Bildhaftigkeit an Tiefgang einbüßen. Andrerseits können sie eine größere Eindringlichkeit bewirken. Bis zur neunten Szene waren wir von einem großartigen Abend vollends überzeugt. Die Aufführung drohte ab dem zehnten Bild zu kippen.
Schlüssig ist die Idee der Autorinnen, Virginia Woolfs „Orlando“ nicht mit dem Jahr 1928 abschließen zu wollen, sondern bis fast in unsere Zeit reichen zu lassen. Doch ohne einen literarischen Hintergrund versandet der Versuch und das Werk verliert an Spannung. Da kann auch die schwungvolle trans-genre-Aktivistin Justin Vivian Bond als Orlandos Kind, das in die Fußstapfen der Mutter steigt, nichts retten.
Das auch noch im Roman den Hintergrund bildende Viktorianische Zeitalter mit seinem dominierenden evangelikalen Einfluss auf Ehe- und Familienmoral wird im zehnten Abschnitt als Epoche vermehrten Kindermissbrauchs dargestellt. Der libertären elisabethanischen Ära am Anfang fehlt eine ebenso erforderliche harte Kritik. Den guten Geschmack nicht verletzend wird der finsteren Zeit des Holocaust gedacht. Auf einem Zwischenvorhang, vor dem Orlando allein gelassen als Braut steht, werden immer mehr Namen der Ermordeten sichtbar.
Das Leben eines Opernfreundes ist voll von Überraschungen. So war „Parsifal“ nach dem Beginn mit italienischen Werken eine Art Offenbarung. Nach viel Wagner und Richard Strauss wurde die impressionistische „Pélleas und Mélisande“ eine neue Entdeckung. Dirigent Matthias Pintscher und das Orchester der Wiener Staatsoper in Verbindung mit einer großen Zahl an künstlerischem und technischem Personal haben uns eine neue Art des Musiktheaters vorgestellt.
Das letzte Bild, zwar optisch sehr wirkungsvoll, stimmt uns in vielerlei Hinsicht nachdenklich. Orlando zitiert kämpferisch als ihr letztes Wort im Stück Hannah Arendt: „Niemand hat das Recht zu gehorchen.“ Dieser Spruch ist auch vor dem Bildungscampus in der Wiener Seestadt zu lesen. Aber dieses Zitat ist entstellt. Es heißt richtig: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen bei Kant.“ Hannah Arendt hatte damit Adolf Eichmann widersprochen, der sich auf den kategorischen Imperativ Kants berufen wollte. Das ist leider der Dramaturgie der Wiener Staatsoper nicht aufgefallen.
Der Frauenchor singt im Finale von einer grenzenlosen Freiheit. Der finnische Novellist und Romancier Tito Colliander schreibt in seiner Novelle „Das Fenster“: „Alles um ihn wird vernichtet, nur er selbst bleibt übrig … In seiner eigenen großen Freiheit schwindelt ihm, denn sie ist bodenlos und unheimlich.“ Da kommt die Sonne zwischen den Wolken hervor und für den Fieberkranken erscheint an der Wand das blassgelbe Viereck des Fensters, das Halt gibt.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 9. Dezember 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at