Messiaen, messianisch

Olivier Messiaen, Saint François d’Assise / Oper in drei Akten und acht Bildern  Elbphilharmonie, 2. Juni 2024

Elbphilharmonie © Maxim Schulz

Olivier Messiaen
Saint François d’Assise / Oper in drei Akten und acht Bildern in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Audi Jugendchorakademie
LauschWerk

Jacques Imbrailo  Saint François
Anna Prohaska  L’Ange
Anthony Gregory  Le Lépreux
Kartal Karagedik  Frère Léon
Dovlet Nurgeldiyev  Frère Massée
Andrew Dickinson  Frère Élie
David Minseok Kang  Frère Bernard
Florian Eggers  Frère Sylvestre
Niklas Mallmann  Frère Ruffin

Dirigent  Kent Nagano

Szenische Einrichtung  Georges Delnon
Thomas Jürgens  Szenografie
Julia Mottl  Kostüme
Janina Zell, Ralf Waldschmidt  Dramaturgie
Marcus Richardt  Film
Stefan Bolliger  Licht
Martin Steidler  Einstudierung Chor

Elbphilharmonie, 2. Juni 2024

von Harald Nicolas Stazol

Wenn Dir niemand Geringere als die Konzertmeisterin des Hamburger Staatsorchesters, Joanna Kamenarska höchstselbst, keine Stunde nach dieser Tour de Force von Olivier Messiaen und seinem Saint François d’Assise auf Deinen Facebook-Eintrag, „Fünf Stunden, und ich habe überlebt“ – ein liebevoll-erschöpftes „Ich auch!“ schreibt, samt Smiley, dann hat sich heute, vom Nachmittag bis zum späten Abend, etwas ereignet, dessen Bedeutung mir nach einer Nacht voller Aufregung und wirrer Träume von Gott und Heiligen und Büßertum und Vogelzwitschern ganz bewusst wird, es ist, als sei man geläutert, und hätte beim HERRN Ehre eingelegt, und es beginnt ein neues Leben, denn da ist die Zeit vor dieser Aufführung, und eine danach.

„Das werde ich nicht noch einmal erleben“, sagt die edle Dame im Lift nach unten, da tobt im Saal immer noch Applaus, und ich sage „Ich wohl auch nicht!“, und sie, „Ja, das weiß man nie!“ – und ich lasse ihr selbstverständlich den Vortritt und sage „Nach Ihnen!, und sie sagt „Eben!“

„Wie war es, wie war es“ fragen schon auf der Zugbrücke über dem Kanal unten zwei junge, begeisterte Musikstudenten, das habe ich auch noch nicht erlebt, ja, wie war es eigentlich? „Es war ein Erlebnis!“

Es liegt etwas von einem Hochamt über dem Saal, und hoch sind sie alle, auf einer Brücke, und sieben Meter hoch schwebt nach der ersten Pause die vergöttlicht-göttliche Sopranistin Anna Prohaska, als Engel, und ihre Stimme auf Engelsflügeln so ergreifend, während sie wundergleich auf den verschiedensten Rängen in aller Unschuld und natürlich in Weiss und mit Glitzer-Make-Up immer wieder auftaucht, unverhofft, da ist sie schon das zweite Wunder, derer es in besagten fünf Stunden einige geben wird.

Das erste Wunder ist der Heilige Franziskus, in Gestalt des Jacques Imbrailo, dessen Sangeskunst so himmlisch wie kraftvoll, und andauernd in seiner Reise zu sich selbst und zu Gott, schlicht Stupor Mundi, ein wahres Gottesgeschenk, und dabei bin ich Protestant! Messiaen aber war ein tiefgläubiger Katholik, der Mann, der ja das allumfassende Wunder heute erst ermöglicht hat, „Il le composait pour huit ans, vous le savez?“, erklärt mir die Französin mit dem sie überragendem, sommersprossigem Sohnemann, beide très chic, acht Jahre hat der Meister komponiert, beauftragt vom „Président de la République, Pompidou!“ – und dass der Operndirektor der Opéra Garnier ja damals Hamburger war, aber warum denn jetzt „Assise en Hambourg? Une cité si riche?“, in dieser so reichen Stadt, und ich denke nach über das Armutsgelübde vor einem Publikum voller Pfeffersäcke, aber heute Abend meine ich es liebevollst.

Nichts anderes, als die Liebe zur Musik kann es sein, die hier waltet, auch der Kultursenator vorne hält eisern durch „wenn der es kann, kann ich es auch“, denke ich noch über alle Dissonanzen und harmonischen Schwierigkeiten und allen Anstrengung hin, und ich gebe unumwunden zu, in die beiden Pausen jedes Mal mein Mäntelchen mitzunehmen, aber es herrscht Anwesenheitskontrolle! Ausgerechnet!

Zunächst begegne ich dem Pressechef der Elbphilharmonie, da ist mir von den Läufen und den schrägen Melodien und der ganzen Inszenierung noch schwindelig, und meinem „Ich kann kaum noch…“ – sagt er „Unbedingt bleiben! Jetzt kommt der Engelssopran!“, und ich verspreche es ihm in die Hand – außerdem würde mich der erlauchte Herausgeber „mit dem Ohr an die Wand nageln“, (Orpheus und Eurydike), „Und das ist doch ekelhaft!“ (ebd.)

Und ich fasse Mut und schöpfe Atem und strebe hochkonzentriert ein Foyer Bänkchen an, von denen es ja viel zu wenige gibt, und dann schon wieder eine kleine Gotteserscheinung, der PR-Chef der Staatsoper – die beiden Häuser haben ja für diese aufwendigste Produktion „in der Geschichte des Hauses“ aufs Füglichste und Genialste kooperiert, „aber diese Dissonanzen!“ gestehe ich, aber von nun an sehe ich es sportlich, und er sagt „nach der zweiten Pause ist es ja nur noch eine Stunde!“ – und ich halte Wort, und außerdem –

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Elbphilharmonie, Kent Nagano © Claudia Hoehne

dirigiert dieses dritte Wunder, Kent Nagano am Pult nun offenbar aus der Originalpartitur (kannte er doch Messiaen noch persönlich!), sein Meer an Musikern, die See an Sängern aus zwei Chören oben (unterstützt wieder um von einem Chorleiter), und die immer wieder wie weiße Gischt aufschäumenden Solisten auf der Brücke, – alle in schiere Leistung unübertrefflich – und im ganzen Saal – hier, in Inszenierung und Gesamtkomposition vergöttlichen sie sich alle gerade selbst.

Es ist wie ein endloses Gebet. Und der Heilige Geist kommt über sie. Nein, über den anfangs ausverkauften Saal, der sich aber nach den Pausen merklich leert, ich bin mit meiner Anstrengung also nicht allein, aber nun hält mich meine preußisch-protestantische Disziplin, und meine – den Leser vielleicht überraschende – tiefempfundene Gottesfurcht.

Ein klitzekleines Sternchen ist das Mädchen, das zu Inszenierung gehört, und in einem  durchsichtig grünen Plastikmäntelchen, das ganz schön marathonartig mit hellstrahlender Stirnlampe die spiraligen Treppen der Philharmonie hochwetzt, aber wir können nicht umhin, auch die Projektionen über allem zu erwähnen, die Einspielungen eines Hinz- und Kunz-Verkäufers – er wird noch in personam zum frenetischen Applaus auf die Hochbrücke kommen – die tolle Frau, deren Engagement auf einem Flüchtlingsschiff gezeigt wird, und andere und andere, spätestens jetzt bricht absolute Spiritualität aus, und es ist ja auch ein Abend der Demut.

Bedenkt man die Kosten dieser gigantisch-gigantomanischen First Class Produktion, mag man das Armutsgelübde des Heiligen Franziskus überdenken –

Wirkliche Scham aber ergreift mich, als ich unter dem Baumwall einen Obdachlosen auf einer schmutzigen Matratze ruhen sehe, ich Schatten des so luxuriösen Glaspalastes fast, und nur noch zwei Euro zur Hand habe – wenn dieser Abend nicht zum Innehalten und zu Gottesfurcht und Glauben und zur Demut geführt hat, war hier auf den teuren Plätzen fehl am Platze.

Und ja, an diesem Abend habe ich für UNSER ALLER SEELENHEIL gebetet. Je vous le jure!

So etwas vergisst man nicht!

In Ewigkeit, Amen.

Harald Nicolas Stazol, 3. Juni 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Werke von Lili Boulanger, Olivier Messiaen und Francis Poulenc, Chor St. Michaelis Orchester St. Michaelis, Jörg Endebrock, Katharina Konradi, Marie Seidler St. Michaelis, Hamburg, 29. März 2024 (Karfreitag)

Olivier Messiaen, Turangalîla-Symphonie Philharmonie Berlin, 25. Mai 2023

Olivier Messiaen und Gustav Mahler, London Symphony Orchestra, Barbara Hannigan, Dirigentin Kölner Philharmonie, 9. März 2023

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