St. Michaelis, Hamburg, 29. März 2024 (Karfreitag)
Chor St. Michaelis
Orchester St. Michaelis
Katharina Konradi, Sopran
Marie Seidler, Mezzosopran
Jörg Endebrock, Leitung
Werke von Lili Boulanger, Olivier Messiaen und Francis Poulenc
Auch am heiligen Karfreitag machte die Hamburger Musikszene nicht halt: In der grandiosen Kirche St. Michaelis, unweit des Hamburger Hafens, gab es ein spannendes, durchweg seliges Programm mit Poulenc, Messiaen, und Boulanger zu hören. Chor, Orchester und die beiden Solistinnen Maria Seidler und Katharina Konradi überzeugten auf ganzer Linie, vor allem Lili Boulangers Psalm 130 geriet zu einer meisterlich kraftvollen Aufführung dieser Romantik-Rarität.
Fotos: Chor und Orchester St. Michaelis, © Schmidt / Fischer
von Johannes Karl Fischer
Karfreitag und Musik ist so eine Sache. Zu mindestens in Deutschland, da ist das ja zum Teil gesetzlich reglementiert. In Hamburg sind zum Beispiel nur Werke, bei denen „der diesen Tagen entsprechende ernste Charakter gewahrt wird,“ gestattet. Abstriche bei der künstlerischen Qualität – oder mindestens beim Repertoire – wird man wohl hinnehmen müssen?
Nein, ganz im Gegenteil:
Mit Lili Boulangers Psalm 130 kam im Hamburger Michel ausgerechnet an diesem heiligen Tag eine wunderbare Rarität der Romantik auf das Konzertprogramm. Ein heiliges Konzert mit entsprechendem Charakter – wie bei der Matthäuspassion am Palmsonntag wurde das Publikum gebeten, nicht zu applaudieren – wird zum Schauplatz der lebendigen Hamburger Musikszene!
Auch die Ausführung der Musik war einer ganz großen Ehre würdig. Der Chor St. Michaelis stürzte sich gleich zu Beginn an mit voller Leidenschaft in das äußerst vielschichtige Werk. Voller Emotion flehten sie den Herrn mit einer brennend intensiven Musik an, die Aktualität dieses Werkes liegt auf der Hand. Auch ihre KollegInnen aus dem Orchester St. Michaelis meisterten die üppig besetzte Partitur mit einem äußerst buntem Klangspektrum, brachten die große Kompositionskunst der weitgehend vergessenen Komponistin voll und ganz zum Klingen.
Die erste Gesangssolistin des Abends – die Mezzosopranistin Marie Seidler – hob die mitreißende Dramatik dieser Musik nochmal deutlich in die Höhe. Die nicht sehr zahlreichen Zeilen, welche sie zu singen hatte, berührten mit intensiver Stimme aus tiefster Seele und ließen die hochemotionale Musik im ganzen Körper mitfühlen. Insgesamt ein rundum exzellentes musikalisches Ensemble, wie es dieses rundum herausragende Stück mehr als verdient hat!
Anschließend stand ein Werk Olivier Messiaens auf dem Programm. Ja, der urkatholische Organist mit den verkomponierten Vogelstimmen. Les Offrandes oubliées (Die vergessenen Opfergaben), eine Méditation symphonique für großes Orchester. Also ich glaube, was für Messiaen eine symphonische Meditation war, kommt bei den meisten KonzertbesucherInnen wie ein mächtiges Dies Irae an, da schien mir weitgehend der volle Zorn Gottes in der Kirche zu toben. Nicht ganz unbeteiligt daran war sicherlich der Dirigent des Abends, der Michelkantor Jörg Endebrock, der das ganze Programm äußerst tief und hingabevoll leitete und auch am seligen Trauertag die Musik stets feurig in den Vordergrund stellte.
Nun aber wieder zurück in die heilige Karfreitagsstimmung… am anderen Ende des eher knapp gehaltenen Messiaen-Werks kam nämlich Francis Poulencs Stabat mater. Auch in diesem eher klagenden Musikgedicht entfalteten alle Beteiligten die höchste musikalische Passion, der Chor voller Leidenschaft, das Orchester mit einer voluminösen, dennoch feingeschliffenen Klangfülle. Die im Vergleich zu Boulangers Ansatz etwas sanfter und seligeren Poulenc-Klänge segelten durch das monumentale Michel-Kirchenschiff, auch der Chor sang hier sauber, rund und mit makelloser Präzision.
Katharina Konradi ©
Neu dazu kam Katharina Konradis Sopran-Solo… künstlerisch das Highlight des Abends. Auch Frau Konradi (Ensemblemitglied der Staatsoper Hamburg) hatte jetzt wirklich nicht die weltgrößte Gesangsrolle zu singen, kurz, doch definitiv nicht knapp. Ihr emotionaler, tief in die Seele eindringender Sopran strahlte durch das ganze große Michel-Kirchenschiff und schwebte hoch über Orchester und Publikum. Als stünde hier die weinende Mutter Maria vor ihrem eigenen, sterbenden Sohn Christus… inhaltlich wie musikalisch gesehen hätte man das wohl kaum emotionaler, berührender singen können. Die eine oder andere Träne ist auch in dieser heiligen Halle geflossen.
Karfreitag hin oder her… auch an diesem heiligsten aller heiligen Tage blüht im Hamburg „Michel“ die hohe Musikkunst auf. Und liebe KonzertveranstalterInnen: Bitte mehr Lili Boulanger auf die Programme bringen, vor allem in solch einer mitreißen musikalischen Qualität!
Johannes Karl Fischer, 30. März 2024 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniels vergessene Klassiker Nr 10: Lili Boulanger – D’un soir triste
Francis Poulenc, Dialogues des Carmélites Wiener Staatsoper, 28. Januar 2024 / 4. Februar 2024
Francis Poulenc (1899-1963), DIALOGUES DES CARMÉLITES Opéra Royal de Wallonie-Liège, 29. Juni 2023