Die Berliner feiern den Hymnus der Liebe

Simone Young (Foto: Sandra Steh)

Philharmonie Berlin, 25. Mai 2023

Olivier Messiaen
Turangalîla-Symphonie

Berliner Philharmoniker
Simone Young  Dirigentin

Cédric Tiberghien  Klavier
Cynthia Millar  Ondes Martenot

von Sandra Grohmann

Indische Rhythmen plus Tristan plus afrikanischer Tanz plus (natürlich) Vogelstimmen plus alt-mexikanische Themen plus fernöstliche Zeremonialmusik, ach, und was nicht noch alles: Darunter machte es Olivier Messiaen nicht. Der tiefgläubige Katholik verspann in seiner Turangalîla-Symphonie Raum und Zeit zu einem die ganze Welt umschließenden berauschenden Liebeshymnus. Meine Begleiter, mit dieser Musik unvertraut, waren nach pausenlosen 75 Minuten sichtlich aus dieser Welt gerissen. Was für ein Trip!

Ich bin mir nicht sicher, ob das Werk unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen mit dem (Pseudo-)Argument der kulturellen Aneignung ausgesondert worden wäre. Aber das Einander-die-Hand-Reichen, das Anerkennen und die gleichberechtigte Einbeziehung fremder Musiktraditionen entsprechen einem früher vielleicht populäreren Gedanken, wonach Musik universelle Sprache sein kann – übrigens nicht allein von Menschen geteilt. Messiaen bezog auch den Vogelsang in sein Komponieren ein. Er soll in der Lage gewesen sein, 700 Vogelgesänge zu unterscheiden, die er nicht nur auf Tonband aufgenommen, sondern auch stenografiert habe. Kaum vorstellbar, wie einer da in unterschiedlichen Weltgegenden sitzt und Vogelzwitschern in Noten überträgt. Auf seiner „großen“ Visitenkarte bezeichnete sich der Komponist konsequenterweise zusätzlich als Ornithologe. In der Turangalîla-Symphonie kommt dies im sechsten Satz, dem Jardin du sommeil d’amour, besonders deutlich zu Ohren.

Dieser Ruhepunkt des Liebesschlafs ist umrahmt von äußerst stark rhythmisierten Sätzen, die teils nahezu durchgängig im Fortissimo dargeboten werden. Drei von ihnen sind explizit mit Turangalîla bezeichnet. Das Wort stammt aus dem Sanskrit, ist einer indischen Musiktheorie entnommen und wurde von Messiaen frei als Tempo-Spiel übersetzt. In die Turangalîla-Sätze übernahm er die indischen Rhythmen unmittelbar. Das gesamte Werk beruht auf kunstvoll ineinander verschränkten minimalen Themen. Sie weisen einerseits bereits auf die serielle Musik, als dessen Frontmann Messiaen begriffen werden darf und der er sich in der auf die Symphonie folgenden Zeit zuwandte. Andererseits flutet die Symphonie die Zuhörer mit spätimpressionistischem Farbenreichtum; Messiaen legte Wert auf Farbe, er war Synästhetiker.

Die Berliner Philharmoniker unter Simone Young lassen beides beeindruckend hörbar und erlebbar werden: Den Minimalismus und zugleich die Opulenz. Nachdem mir selbst die Symphonie bis dato nur von Schallplatte bekannt war (als Studentin habe ich mein Exemplar in vermutlich nicht zu hundert Prozent sozialverträglicher Lautstärke rauf und runter abgespielt), ist es für mich ein Ereignis, sie live zu hören. Da flitzen die Motive von links nach rechts übers Podium, wie keine noch so gute Musikanlage es reproduzieren könnte. Da überträgt sich die Hochspannung der immer wieder einmal mitzählenden (!) Musiker ins Publikum. Da wird der ältere Herr vor mir zum Headbanger und die gediegenen Leute rechts und links neben mir können sich bei den ironischen Kommentaren, die die Ondes Martenot zu geben scheinen, ein Lachen nicht verkneifen. Gut so!

Überhaupt, die Soloinstrumente. Cédric Tiberghien gräbt sich in den mörderischen Klavierpart, den er mühelos zu beherrschen scheint, schier ein. Obwohl auch er an rhythmisch kniffeligen Stellen durchzählt, scheint er mit der Musik zu verschmelzen, lässt den Flügel mal wüten und mal Vogelstimmen tirilieren, entlockt ihm die unterschiedlichsten Klangfarben. Neben der großen Schlagzeuggruppe, die Messiaen für das Werk vorgesehen hat, wird so mitunter auch das Klavier mit seinen Glockentönen zum Schlagzeug – wie übrigens sogar die Kontrabässe, indem die Saiten scharf angestrichen werden, also ganz ohne ein banales Schlagen auf den Holzkörper. Es entsteht ein atemberaubendes Miteinander der Soloinstrumente und Streicher mit den Perkussionisten vom Vibraphon bis zum Holzblock.

Foto: (c) Sandra Grohmann

Auf der anderen, der sanften und ganz melodischen, auch mal hintersinnig kommentierenden und  die Violinen und Bratschen unterstützenden Seite spielt die Grande Dame der Ondes Martinot unserer Tage, Cynthia Millar, die mit leisem Lächeln dem frühen elektronischen Instrument  sowohl Stummfilm-Glissandi wie auch spitzere Töne entlockt (und demjenigen, der über das Instrument mehr erfahren möchte, es hier erklärt: https://youtu.be/yidV0HeVyCg). Ironischerweise trug sie  dazu eine romantische Rüschenrobe.

An dieser Stelle ist es einmal Zeit für die Anmerkung, wie befremdlich es heute scheint, die männlichen Philharmoniker ein avantgardistisches Stück von 1948 im Frack spielen zu sehen, während die Damen sich freier kleiden dürfen, die Dirigentin ein mit undefinierbarem Muster bedrucktes Shirt trägt und der Pianist einen roten Schlips. Die hinter letzterem sitzenden und den Klavierpart teils exakt spiegelnden Herren an der Celesta und dem Klaviatur-Glockenspiel gelten nicht als Solisten und stecken daher wiederum im Frack. Sieht ja gut aus, keine Frage, mutet aber doch ein wenig anachronistisch an. Dies aber nur als kleiner Exkurs.

Foto: (c) Sandra Grohmann

Zurück zu den Ondes Martenot (mitsamt ihren Lautsprechern), zu Flügel, Celesta, Klaviatur-Glockenspiel und Schlaginstrumentengruppe: Das Podium ist damit so überfüllt, dass ich aus Block A von Simone Young, die hinter dem Flügeldeckel verschwindet, nur die fast achtzig Minuten lang tanzenden Füße und die gelegentlich in die Luft gestreckten Hände sehe. Meine in Block F sitzenden Begleiter hingegen können die Ondes nicht so gut heraushören, dafür aber eine mitreißende Dirigentin erleben, die die Konzentration des Orchesters zusammenhält und das Faszinosum Turangalîla zum Leben erweckt.

Und wo steckt Tristan in all dem Trubel? Eine Programmmusik ist es nicht, die hier zur Aufführung gelangt. Es gibt auch keinen direkten musikalischen Bezug zu Wagner. Messiaen wollte das Werk aber als Teil einer Tristan-Trilogie verstanden wissen. Er preist damit die allumfassende Liebe, die übermenschliche Freude. Es ist das Unwiderstehliche des Liebestranks, das sich Bahn bricht. Die Philharmoniker unter Simone Young übertragen das in ihr Publikum – live und in Farbe. Jubelnder Applaus trotz des nicht ausverkauften Hauses. Die Berliner feiern den Hymnus der Liebe.

Sandra Grohmann, 27. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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