Barockmusik in Perfektion – Weltklasse-Besetzung zelebriert musikalischen Dialog über Jahrhunderte
Foto: Marco Borggreve (c)
Elbphilharmonie Hamburg, 19. November 2018
Il Giardino Armonico
Patricia Kopatchinskaja Violine
Giovanni Antonini Flöte und Leitung
von Sebastian Koik
Am 19. November 2018 in der Elbphilharmonie spielen Il Giardino Armonico unter Giovanni Antonini und Patricia Kopatchinskaja klassisch Vivaldi, ergänzt durch Kompositionen und musikalische Kommentare italienischer zeitgenössischer Komponisten.
Es beginnt mit Vivaldis „Concerto g-Moll RV 157 für Streicher und Basso continuo“. Die Violinisten und Bratschisten musizieren den gesamten Abend im Stehen. Giovanni Antonini dirigiert ohne Taktstock, stattdessen mit seinem ganzen Körper. Der Vortrag von Il Giardino Armonico, einem der führenden Orchester für Alte Musik, ist spritzig und voller Energie.
Dann ein fließender Übergang zu Luca Francesconis „Spiccato il Volo“, exzellent dargeboten von der Solistin Patricia Kopatchinskaja. Die Komposition basiert auf einer der zahlreichen von Antonio Vivaldi eingeführten und damals hoch innovativen Spieltechniken und erinnert an einen Schwarm Bienen oder Vögel.
Und wieder ein fließender Übergang, zurück zu einem Vivaldi-Stück. Das „Concerto C-Dur RV 191 für Violine, Streicher und Basso continuo“ macht Spaß, ist gewissermaßen barocke Partymusik.
So geht das den ganzen Abend: Immer wieder fließende Übergänge zwischen Vivaldi und dessen Landsmännern aus dem 20. und 21. Jahrhundert, eine Art Dialog über die Distanz von drei bis vier Jahrhunderten. Das ist spannend und kraftvoll zusammengestellt, und einige der neuen Kompositionen bilden tatsächlich interessante Kommentare, Kontraste und Ergänzungen zum italienischen Altmeister.
Patricia Kopatchinskaja spielt den ganzen Abend über sowohl technisch als auch künstlerisch absolut brillant und makellos. Ihre Virtuosität in den hoch fordernden und teilweise rasend schnellen Vivaldi-Stücken wirkt unfassbar leicht und natürlich, die langsamen Passagen interpretiert sie voller Tiefe. Alle auf der Bühne sind ganz, ganz große Könner und zählen zu den Allerbesten ihres Fachs. In Vivaldis Concerto Es-Dur RV 253 für Violine, Streicher und Basso continuo »La Tempesta di Mare«“ zum Ende der ersten Konzerthälfte spielt das Streicher-Ensemble feinstes Pizzicato voller Luftigkeit und perfekt dosierter Zartheit.
Nach der Pause geht es weiter mit „Estroso“ von Aureliano Cattaneo, einem starken Werk, spannend, atmosphärisch und wohl das beste Nicht-Vivaldi-Stück des Abends. Giovanni Antonini ist nicht nur exzellenter Dirigent, sondern einer der besten Flötisten der Welt. Auch an diesem Abend betätigt er sich immer wieder als Flöten-Solist, parallel zum Dirigieren. Besser als Antonini hat kaum je jemand dieses Instrument gespielt, mehr als er kann man weder an expressivem Ausdruck noch an feinen Schattierungen aus diesem kleinen Instrument herausholen. Bei ihm ist Flötenspiel Spektakel für Ohr und Auge.
Dann das „Concerto e-Moll RV 550 für vier Violinen, Streicher und Basso continuo“ von Antonio Vivaldi. Herrlich schön! Barockmusik in Perfektion! Und als visuelles Extra sieht man den charismatischen Giovanni Antonini lebhaft dirigieren, mit jeder Faser seines Körpers im Dienste der Musik – einige seiner Bewegungen erinnern stark an den Bühnen-Derwisch Mick Jagger. Ein audiovisuelles Gesamtkunstwerk und großes Vergnügen.
Antonio Vivaldis „Concerto D-Dur RV 208 für Violine, Streicher und Basso continuo »Grosso Mogul«“ ist das letzte Stück aus dem Programm. Jeder einzelne Musiker auf der Bühne ist brillant, ihre Spielfreude ist grenzenlos. Die Künstler brennen ein musikalisches Feuerwerk ab und lassen die Funken sprühen.
Patricia Kopatchinskaja hat noch ein wahnsinnig starkes Solo. Sie agiert so auf der Bühne wie sie musiziert, auf einzigartige Weise: wild, etwas frech, verspielt, mutig und unzähmbar. Aber alles passt! Es ist alles genau so in der Musik und wirkt absolut stimmig und dadurch nicht unnatürlich aufgesetzt. Das ist nicht nur Show, sondern authentisch. Patricia Kopatchinskaja reißt mit, begeistert. Gänsehaut.
In der Vergangenheit wirkte die in Moldawien geborene Weltklasse-Geigerin für manche gelegentlich etwas zu überdreht, leicht manieriert und auch mal übertrieben kratzbürstig. An diesem Abend ist sie zwar ungemein individuell, aber wunderbar!! – Sie zeigt sich an diesem Abend in Hamburg wahrscheinlich als die beste Künstlerin Patricia Kopatchinskaja, die es jemals gab!
Nach zwei schönen Zugaben, unter anderem wieder mit genialem Antonini-Flötenspiel, Riesenapplaus und Jubel, ganz besonders für die einmalige Patricia Kopatchinskaja.
Sebastian Koik, 20. November 2018, für
klassik-begeistert.de
Antonio Vivaldi
Concerto g-Moll RV 157 für Streicher und Basso continuo
Luca Francesconi
Spiccato il Volo
Antonio Vivaldi
Concerto C-Dur RV 191 für Violine, Streicher und Basso continuo
Simone Movio
Incanto XIX
Giacinto Scelsi
L’Âme ouverte
Antonio Vivaldi
Concerto Es-Dur RV 253 für Violine, Streicher und Basso continuo »La Tempesta di Mare«
Aureliano Cattaneo
Estroso
Antonio Vivaldi
Concerto e-Moll RV 550 für vier Violinen, Streicher und Basso continuo
Giovanni Sollima
Moghul
Antonio Vivaldi
Concerto D-Dur RV 208 für Violine, Streicher und Basso continuo »Grosso Mogul«
Béla Bartók [als Zugabe]
Variation Nr. 36 aus: Vierundvierzig Duos für zwei Violinen Sz 98 / Transkription für Flöte und Violine
Jorge Sánchez-Chiong [als Zugabe]
Crin / für Sologeige
Das „wahnsinnig starke Solo“ am Schluss von Vivaldis „Grosso Mogul“ war die von Vivaldi eigenhändig notierte Kadenz zum letzten Satz, eine Rarität, denn Kadenzen wurden in dieser Zeit sonst nicht aufgeschrieben. Kopatchinskaja insistiert darauf, diese absurde und überlange Kadenz ungekürzt zu spielen.
L. Fierz