Ein Meistergeiger löst das Rätsel von Elgar

Philharmonia Orchestra London, Santtu-Matias Rouvali, Christian Tetzlaff, Violine  Wolkenturm, Grafenegg, 20. August 2023

Wolkenturm, Grafenegg, 20. August 2023

Edward Elgar: Konzert für Violine und Orchester in h-Moll op. 61

Pjotr Iljitsch Tschaikowski: Symphonie Nr. 5 in e-Moll op. 64

Christian Tetzlaff, Violine
Philharmonia Orchestra London
Dirigent: Santtu-Matias Rouvali

von Herbert Hiess

Man muss als Rezensent in die Jahre kommen, um dann endlich im Rahmen des Grafenegg-Festivals eines der seltsamsten und auch selten gespielten Violinkonzerte hören zu können. Edward Elgar selbst machte um diesen fast 50-minütigen Koloss ein echtes Rätsel.

Komplex komponiert – so buhlen allein im ersten Satz sechs Themen um Aufmerksamkeit – allerdings recht schwierig, da das Werk sehr dicht instrumentiert ist.  So spielt auch das volle Blech sogar mit Basstuba mit. Natürlich ist es da äußerst kompliziert, die einzelnen Themen zu identifizieren.

Das äußerst lange Werk ist dem Geiger Fritz Kreisler gewidmet, der es auch mit Elgar am Dirigentenpult zur Uraufführung brachte. Darüber hinaus schrieb Elgar in die Partitur „Aquí está encerrada el alma de …..“. Und genau diese fünf Punkte verbergen eine Liebschaft, die nie genau identifiziert wurde – nur Vermutungen darüber wurden angestellt.

Zur Rätsellösung angetreten sind in Grafenegg der gebürtige Hamburger Christian Tetzlaff und das Philharmonia Orchestra London; nicht nur eines der führenden Orchester von Großbritannien, sondern eines der führenden Orchester der Welt.

Dirigent des Abends war der 1985 geborene Finne Santtu-Matias Rouvali, den man zu Recht als späte Neuentdeckung erklären kann. Er begeisterte den ganzen Abend mit einer hochpräzisen und verständlichen Schlagtechnik und er inspirierte die Orchestermusiker (und das Publikum) auf bestechende Weise. Dass er Tschaikowski gewaltig auslegte, steht auf einem anderen Blatt. Dazu aber später.

Christian Tetzlaff ist ein viel zu wenig in unseren Breiten bekannter Geiger. Dass er die anspruchsvollen Schwierigkeiten von Elgars Werk meisterte, versteht sich von selbst. Doppelgriffe, rasante Läufe, Flageoletts in höchsten Bereichen – ein Traum, wie Tetzlaff und die Londoner unter Rouvali sich selbst und das Publikum in einen Klangrausch versetzten. Was bei Tetzlaff so begeisterungswürdig war, waren die extremen – fast gehauchten – Pianissimi. So was hört man leider allzu selten.

Elgar hat, wie schon oben erwähnt, das Werk äußerst komplex und kompliziert komponiert; er wollte so viel da reinpacken, dass es letztlich für den „gewöhnlichen“ Hörer dann zu viel wird. Aber schon der virtuose erste Satz war schon allein den Besuch des Abends wert. Persönlicher Höhepunkt war die Kadenz im dritten Satz, wo neben der Sologeige auch Tremoli und Pizzicati die Atmosphäre untermalten – einfach nur großartig.

Der superbe Geiger bedankte sich für den tosenden Applaus mit einer Zugabe – natürlich mit Bach. In dem Andante der Sonate Nr. 2 in a-moll ließ der Komponist keine Schwierigkeit aus; viele Doppelgriffe sowie Begleitung und Melodie simultan machten aus dem „einfach“ klingenden Werk ein Bravourstück. Auch hier bewies Tetzlaff seine unschlagbare Virtuosität.

© Herbert Hiess

Nach der Pause Tschaikowskis „Gassenhauer“ die fünfte Symphonie. Das Philharmonia Orchestra brillant und präzise wie immer, aber bei dem Dirigenten muss man fast alle Hörgewohnheiten über Bord werfen und sich auf eine Neuinterpretation einstellen.

Da war wenig Platz für Träumerei und Romantik; das berühmte Andante Cantabile mit dem Hornsolo war dann nicht so ergreifend, wie man es ansonsten gewöhnt ist. Ansonsten war die Aufführung da wie dort mit speziellen Akzenten gewürzt; bei der Fortissimostelle im Andante war beispielsweise die Horngruppe so dominant, dass man das Werk nicht wieder erkannte.

Auch im Finale beispielsweise war der Übergang zum Allegro Vivace fast befremdlich; nach einem langen Piano-Ostinato leitete ein kurzes und fast belangloses Pauken-Crescendo zum Allegro Vivace über. Bei der Final-Coda wechselten unübliche Piano- und Fortestellen fast etwas planlos ab; die zugegebenermaßen sehr schwierigen triolenartigen drei Viertel des vorletzten Taktes und der letzte Takt waren überhaupt nicht erkennbar und etwas „heruntergeschludert“.

© Herbert Hiess

Als Zugabe brillierten Rouvali und das Orchester mit der Polonaise aus Tschaikowskis Oper „Eugen Onegin“, wo ein paar simple Gemüter im Publikum gnadenlos in den letzten Takt reinklatschten. Man musste dann diese Leute darauf aufmerksam machen, dass sie sich nicht bei „Musikantenstadl & Co“ befinden!

Rouvali und das traditionsreiche Philharmonia Orchestra sollten viel mehr ins österreichische und Wiener Konzertleben eingebunden werden; insgesamt schreit das nach Fortsetzung. Und wenn der Maestro seine „künstlerischen Freiheiten“ etwas einschränken könnte, wäre er locker im Weltklasse-Level zu sehen!

Herbert Hiess, 21. August 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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