Mehr als „Die Moldau“ und „Carmen“: Radio-Entdeckungen im Netz

Radio-Entdeckungen im Netz  klassik-begeistert.de

von Dr. Andreas Ströbl

In den Zeiten der globalen Eremitage erleben wir alle eine neue mediale Abhängigkeit und selbst Wertkonservative trauen sich kaum mehr, ihren Kindern zu erklären, dass diese längst armselige Knechte einer krakenartigen Unterhaltungs- und Kommunikationselektronik geworden sind, wenn selbst der Gang vom Esstisch zum Sofa nicht ohne süchtigen Blick auf das Gerät möglich ist. Man könnte ja was verpassen in diesen Sekunden. Aber das ist eben nur die eine Seite.

Foto: wikipedia.de (c)

Wie haben die Leute die Spanische Grippe nur ohne Internet überlebt? Zu Massen eben gerade nicht, schließlich sind zwischen 1918 und 1920 mindestens 25 Millionen an der Pandemie gestorben. Der historischen Korrektheit sei die Bemerkung geschuldet, daß sich diese große Schwester von Corona nur deswegen so rasch und weltweit ausbreiten konnte, weil US-Amerikaner und Briten aus Angst vor Wehrzersetzung einfach nicht darüber berichtet haben. Schließlich war ja gerade Weltkrieg.

Was fehlende Berichterstattung und Unterdrückung der Medien bewirkt, erleben wir aktuell. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, haben die faschistoiden chinesischen Behörden den Arzt Li Wenliang vor etwas mehr als drei Monaten zum Widerruf seiner Warnung gezwungen. Das erinnert an den Prozess der katholischen Kirche gegen Galileo Galilei. Ende Dezember des vergangenen Jahres hätte die Pandemie auf ein Lokalereignis beschränkt werden können, aber Macht und Wahrheit sind keine verträglichen Spielkameraden im Sandkasten der Welt.

Das Bild des Papstes, der mutterseelenallein auf dem verregneten Petersplatz den Segen „Urbi et orbi“ einer nicht vorhandenen Menschenmenge erteilt, weckt sogar in hartgesottenen Lutheranern das Bedürfnis, sich dem „Papa“ auf die gebotenen 1,50 m zu nähern und mit ihm eine Palestrina-Lamentatio anzustimmen. Über das gemeinsame Singen und Musizieren in gebotener Distanz berichten Fernsehen und Radio seit der Verhängung des Kontaktverbots, und die „Ode an die Freude“ am 22. März ersetzte uns zwar nicht das mit Vorfreude erwartete Beethoven-Jahr, aber die Aktion hatte etwas Fröhlich-Trotziges mit Fanalcharakter. „Ludwig van“ hätte diese Interpretation von „alle Menschen werden Brüder“ gefeiert!

All diese Bilder, Aktionen und Informationen vermittelt eine stets wachsende Medienlandschaft, die das Draußen virenfrei ins Drinnen bringt. Und so freuen sich auch Liebhaberinnen und Liebhaber von Kultursendern, dass weit mehr als nur der Regionalsender im Netz zu hören ist. Im Norden der Republik ist das besonders wertvoll. Wenn am Samstagmorgen im Radio zum wiederholten Mal nacheinander „Die Moldau“, die Morgenstimmung aus „Peer Gynt“, das „Lied an den Mond“ aus „Rusalka“, die Habanera aus „Carmen“ und schließlich der Gefangenenchor aus „Nabucco“ läuft, dann hat man mit großer Wahrscheinlichkeit „NDR Kultur“ eingeschaltet.

Glücklicherweise ist die Klassiksender-Auswahl einigermaßen vielfältig, wobei viele auch Jazz bringen. HR 2 ist da eine verläßliche und anspruchsvolle Größe. Aus Berlin versorgt die Hörer das „Kulturradio vom RBB“ und durch die hervorragend gemachten Themensendungen führen kenntnisreiche Redakteure. Hier hört man mitunter Musik, von der man zuvor nicht mal die Komponisten kannte. Das gilt auch für WDR 3, der Vielfalt mit Anspruch verbindet. BR-Klassik kommt zwar manchmal etwas altbacken daher, ist aber ebenfalls eine sichere Bank.

Ausgesprochen reizvoll ist es aber, sich anzuhören, was die europäischen Nachbarn zu bieten haben. Die Moderatoren des niederländischen „NPO Radio 4“ sind auch für deutsche Ohren meist gut zu verstehen, zumal jeder noch so exotische Titel mit Komponisten und Werkbezeichnungen so akzentfrei angesagt wird, daß sich mancher eine Scheibe dieser Hingabe abschneiden könnte. Das gilt zum Beispiel für die Redakteure von „Catalunya Musica“, die sich rührend Mühe geben, aber über ihre katalanischen Zungen stolpern. Das sieht man ihnen gerne nach, denn der Sender entführt naturgemäß musikalisch in mediterrane Regionen, und da schlummert so mancher sonnige Schatz.

Ein Jammer, dass es den hervorragenden schwedischen Internet-Sender „Sveriges Radio p2“ nicht mehr bzw. nur noch in traurigen Rudimenten gibt. Der bot wenige Textbeiträge, dafür aber schwerpunktmäßig eine Vielzahl von hier völlig unbekannten skandinavischen Komponisten vor allem aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Auch für gestandene Musikkenner gab es hier völlig ungeahnte Entdeckungen.

Opernfreunde kommen im Internet reichlich auf ihre Kosten. Auf „Ottos Opera House“ laufen rund um die Uhr Opern in voller Länge, allerdings ohne Wortbeiträge. Für Verdi-Puristen hat das Klassik-Radio übrigens „Pure Verdi“ geschaffen, la massima specializzazione possibile in Italianità.

Wer sich mönchisch-abgeklärt in die häusliche musikalische Emigration zurückziehen möchte, für den gibt es den ultimativen Tip. Der niederländische „Concertzender Gregoriaans“ bringt den ganzen Tag vor allem mittelalterliche und frühneuzeitliche Sakralmusik, meist Choräle. Aber es gibt auch wunderbare Ausflüge zu den gemeinsamen morgenländischen Wurzeln, und dann hocken Orient und Okzident kuschelig zusammen auf dem heimischen Diwan. Gerade zur Abendstunde schafft dieser Sender eine solche Ruhe und meditative Konzentration, dass sogar zappelige Kinder sich anstecken lassen. Also, manche zumindest.

Und dann ist ja Hölderlin-Jahr. Dass einer der größten Dichter deutscher Zunge ein ausgesprochen guter Musiker war, wissen auch viele Germanisten und Literaturkenner nicht. Flöte und Klavier beherrschte er weit über das bloße Dilettieren hinaus. Sein damals in ganz Europa berühmter Flötenlehrer Ludwig Dulon meinte, Hölderlin sei der einzige seiner Schüler, dem er nichts mehr beibringen könne. Dieser wiederum widmete seinem blinden Lehrer ein neunstrophiges Gedicht.

Wer sich dem „Hölder“ in seinen letzten Jahren sensibel und musikalisch angemessen nähern möchte, dem sei Harald Bergmanns Hörspiel „Scardanelli“ von 2004 anempfohlen. Die Originaldokumente werden von den Sprechern so einfühlsam und unprätentiös wiedergegeben, daß man dem Menschen und Lyriker so nahekommt, als säße man in seinem Turmzimmer über dem Neckar. Die passend ausgewählten Musikstücke von Schubert, Mozart, Bach und Peter Schneider schaffen die atmosphärische Dichte und Sanftheit, die dieser zerbrechlichen Seele angemessen ist.

Die Zeilen 3 und 4 aus Hölderlins „Patmos“ werden dieses Jahr reichlich zitiert. Wir haben sie nötig: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“

Dr. Andreas Ströbl, 5. April 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

 

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