Foto: © Christian Charisius
Hamburger Rathausmarkt, 25. August 2018
Rathausmarkt Open Air
Nikolai Lugansky,Klavier
Elbenita Kajtazi, Sopran
Oleksiy Palchykow, Tenor
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Kent Nagano, Dirigent
von Leonie Bünsch
Die Hamburger lassen sich ja doch noch für Klassik begeistern! Auch, wenn es dafür nicht in den Großen Saal der Elbphilharmonie geht. Sicherlich an die 5000 Menschen versammeln sich an diesem Samstagabend auf dem Hamburger Rathausmarkt, um die Saisoneröffnung des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg zu feiern. „Dieses Konzert soll ein musikalisches Geschenk an die Menschen unserer Stadt werden“, sagt der Generalmusikdirektor Kent Nagano.
Ein Geschenk macht an diesem Abend vor allem Petrus: es ist das wohl kälteste und regenreichste Wochenende seit Ostern, das sich die Philharmoniker ausgesucht haben, um ein Open-Air-Konzert in Hamburg zu versuchen. Und das in diesem außergewöhnlich heißen Sommer! Doch pünktlich zum Konzertbeginn klart der Himmel auf und beschert den Hamburgern ein zwar kaltes, aber trockenes Konzerterlebnis.
Die geschulten Open-Air-Besucher haben sich Sitzkissen und Decken mitgebracht. Bereits eine Stunde vor Konzertbeginn geht der Kampf um die Sitzplätze in die heiße Phase. und damit ist noch vor Beginn des eigentlichen Events für ausreichend Unterhaltungswert gesorgt.
Das musikalische Programm bietet eine wunderbare Mischung aus populären Stücken, die die drei Kategorien des Opernhauses vertreten: Oper, Konzert und Ballett. Die Oper wird durch Rossini und Bernstein vertreten, das Konzert durch Johannes Brahms. Ravels Boléro und Rachmaninows Rhapsodie über ein Thema von Paganini sind zwar heutzutage Konzertstücke, wurden aber jeweils choreographiert und tänzerisch auf die Bühne gebracht.
Der Konzertabend beginnt mit Gioachino Rossinis Ouvertüre zu Guillaume Tell. Das Stück bietet einen sanften Einstieg in einen Abend voller Klassiker. Spätestens beim letzten Teil der Ouvertüre macht sich das große Wiedererkennen unter den Zuhörern breit, und der ein oder andere kann es nicht lassen, leise mitzusingen.
Es folgt die Rhapsodie über ein Thema von Paganini von Sergei Rachmaninow mit Nikolai Lugansky am Klavier. Rachmaninow verbindet in dem Stück zwei musikalische Themen: Paganinis Thema für Solovioline, das bereits von mehreren Komponisten bearbeitet wurde, und die Dies-Irae-Sequenz, das Todesmotiv schlechthin. Mit dieser Verknüpfung erzählt er die Geschichte von Paganini selbst, von dem man sagte, er habe seine Seele dem Teufel verkauft, um die Perfektion auf der Geige zu erlangen. Den Kontrast zwischen dem lebendigen Paganini-Thema und der schweren Diese-Irae-Sequenz arbeiten die Philharmoniker und Nikolai Lugansky schön heraus. Trotz einiger Unsauberkeiten bezüglich der Intonation, welche man guten Gewissens auf die Kälte schieben kann, musizieren Orchester und Pianist wunderbar zusammen. Vor allem der Rachmaninow-Experte Lugansky beeindruckt mit seiner virtuosen Leichtigkeit, mit der er den technisch hohen Anforderungen des Stückes begegnet. Der anschließende Applaus ist groß!
In der Pause geht der Kampf um die Sitzplätze in die zweite Runde. Einige Zuhörer sind gegangen (womöglich um sich platztechnisch zu verbessern), noch mehr sind gekommen. Eine Frau läuft hektisch in den Reihen umher, um sich und ihrem Rolf einen Platz zu ergattern, ohne Rücksicht auf Verluste – ein Spektakel, das für Empörung auf der einen Seite und reines Entertainment auf der anderen Seite sorgt, während Rolf völlig erstarrt an der Seite steht und murmelt, dass er doch gar keine Lust auf Bernstein habe.
Leonard Bernstein hätte an diesem Tag seinen 100. Geburtstag gefeiert – ihm widmet Kent Nagano die zweite Hälfte des Konzertabends. Beginnen tut er diese jedoch mit Brahms’ Ungarischen Tänzen (Nr. 5 und 6) in der Fassung für Orchester. Für den geschulten Konzertbesucher mag es ein Nachteil sein, dass für diesen Abend die Klassik-Schlager aufs Tapet gebracht werden, begegnen einem in der Oper doch eher selten Zuhörer, die mitsingen und auf ihren Stühlen tanzen. (Selbst Rolf kann ein rhythmisches Zucken auf seinem Platz nicht unterdrücken…) Doch es ist eben dieses Programm, das so viele Leute zu einem Konzertabend mit klassischer Musik lockt und den Philharmonikern wahre Beifallsstürme beschert.
Auf Brahms folgt Bernstein, zunächst mit der Ouvertüre zu Candide, anschließend mit zwei Nummern aus der West Side Story. Als die Sopranistin Elbenita Kajtazi die Bühne betritt, geht ein mitleidiges Raunen durch die Menge: „Oje, die ist ja viel zu dünn angezogen!“ Obwohl sie vermutlich friert, hat sie sichtlich Spaß an ihrer kurzen Rolle als Maria. Und dass ihr aus dem Publikum während eines Auftritts hinterhergepfiffen wird, ist ihr in der Oper vermutlich noch nie passiert. Für das Duett „Tonight“ steht ihr Oleksiy Palchykow zur Seite, und auch er scheint den kurzen Auftritt zu genießen. Beide werden in der kommenden Spielzeit in der Zauberflöte zu hören sein und wecken durch ihren weichen, sauberen Klang schon jetzt große Vorfreude darauf.
Maurice Ravels Boléro rundet den Abend ab. Über den Tanz, der ursprünglich als Ballett gedacht war, sagte Ravel einst, es sei ein „reines Orchesterstück ohne Musik“. Damit bezog er sich vermutlich auf die Tatsache, dass Melodie, Harmonik und Rhythmik sich über die gesamte Dauer von fast 20 Minuten nicht verändern. Der Kern des Stückes liegt in der wechselnden Instrumentation und dem stetigen Crescendo, durch das die Spannung stetig steigt. Die Philharmoniker spielen technisch hervorragend und bieten mit diesem Stück ein fulminantes Finale. Das Publikum ist dermaßen begeistert, dass Nagano es sich nicht nehmen lässt, noch eine Zugabe zu spielen: noch mal der fünfte der Ungarischen Tänze von Brahms – dieses Mal zum Mitklatschen.
Es ist ein ungewöhnliches Konzert: Selten sieht man das Publikum dermaßen involviert in das konzertante Geschehen auf der Bühne. Da ist pure Begeisterung, körperliche Anteilnahme und ein viel freieres Feedback gegenüber den Künstlern. Ja, musikalische Elemente wie dynamische Feinheiten gehen im Grundrauschen der Großstadt unter, und im Zuschauerraum der Hamburgischen Staatsoper würde man sich irritiert umdrehen, wenn jemand hinter einem so unverhohlen seine Freude am Gehörten zum Ausdruck bringt, während das Stück noch läuft. Aber es ist die Atmosphäre, die an diesem Abend beeindruckt und ehrlich gesagt: in der Staatsoper kommen auch nicht 5000 Menschen zusammen. Viele von denen werden normalerweise vermutlich keine Eintrittskarte für ein Konzert der Philharmoniker kaufen. Und welch ein gelungenes Geschenk, dass es vor allem diesen Menschen möglich gemacht wird, wieder einen Zugang zu klassischer Musik zu finden. Klassik begeistert! Das hat dieser Abend gezeigt. Eine rundum gelungene Idee, die gerne wiederholt werden darf.
Leonie Bünsch, 25. August 2018, für
klassik-begeistert.de