"Tristan und Isolde" in Hagen: Liebestod im Adventskalender

Richard Wagner, Tristan und Isolde (Premiere),  Theater Hagen, 7. April 2019

Foto: © Klaus Lefebvre
Theater Hagen, 7. April 2019
Richard Wagner, Tristan und Isolde (Premiere)

von Ingo Luther

Ein strahlender, warmer Frühlingstag in Westfalen und eine heikle Terminkollision für Wagnerianer: Tristan-Premiere am Theater Hagen oder der zeitgleiche Online-Ticket-Verkauf bei den Bayreuther Festspielen?!? Zumindest das Publikum im nahezu ausverkauften Haus an der Elberfelder Straße hatte sich an diesem Nachmittag für die erste Variante entschieden.

Jochen Biganzoli wählt in seinem Regieansatz eine alles andere als klassische, mitunter sehr befremdliche Erzählperspektive. Die Bühne von Wolf Gutjahr ist wie eine Art Setzkasten konzipiert. Auch Assoziationen mit einer Puppenstube oder einem überdimensionalen Adventskalender sind nicht ganz von der Hand zu weisen. Sechs vollkommen abgeschlossene, über- und nebeneinander angeordnete Bühnenräume, sind den handelnden Personen zugeteilt: Tristan bewegt sich in einem aluminiumschimmernden Raum mit greller Neonbeleuchtung, in dem er sich einer Wand mit einem riesigen Konterfei von sich selbst gegenübersieht. König Marke sitzt bzw. liegt in einem kleinen Schlafgemach mit Sechziger-Jahre-Tapeten, Retro-Stehlampe und zahlreichen Umzugskartons; dort spricht er immer wieder gerne französischem Champagner zu. Kurwenal begnügt sich derweil mit Dosenbier und klebt in seinem mehrstöckigen Bühnenausschnitt mit Hingabe Bilder und Zeitungsausschnitte seines Herrn Tristan an die Wände. Brangäne dagegen residiert in einem schnöden, kahlen Büroraum nebst Drehstuhl und einer Art Plastikbadewanne. Den mittleren, kleinen Bühnenbereich teilen sich – je nach Bedarf – Melot, der Steuermann, der Hirte und der junge Seemann. Zu guter Letzt ist Isolde ein komplett schwarzer Raum mit einer Ledersitzgelegenheit zugeordnet, in dem sie mit weißem Stift die Wände beschriftet und bemalt.

Zu keiner Zeit agieren die handelnden Personen miteinander – jeder spielt in seinem eigenen Bühnenabschnitt für sich ganz allein. Der Hagener Intendant und gleichzeitige Dramaturg der Produktion, Francis Hüsers, erklärt dies im Programmheft mit der „Sichtbarmachung des Aneinander-Vorbei-Redens der Figurenjeder einzelne, nur jeweils einer Figur gewidmete Raum schafft dabei das genau treffende Ambiente für eine Szene, die uns den inneren Konflikt des jeweiligen Individuums sinnlich erfahrbar werden lässt im Einklang von Szene, Wort, Musik und Raum-Bild“.

Eine insgesamt mehr als gewagte Erzähltechnik, geht der gesungene Text szenisch dabei zumeist vollkommen ins Leere. Fakt ist, sämtliche Darsteller bekommen sich während der gesamte Aufführung nicht ein einziges Mal leibhaftig zu sehen. Schon die Liebestrank-Szene gerät dabei reichlich skurril – in Brangänes karger Kammer sind die verschiedensten Tränke drapiert, Tristan und Isolde haben aber in ihrem Raum ebenfalls plötzlich ein großes Glas mit einer roten Flüssigkeit zur Hand, die sie tatsächlich auch (mit sichtbarer Mühe) vollends austrinken. Danach – wie durch den Liebestrank „bekleckert“ –  trägt Tristan ein rotes „I“ für Isolde auf der Brust, während Isolde plötzlich ein großes, rotes „T“ schmückt. Das wirkt schlichtweg albern. Originell und kreativ geht anders.Was darüber hinaus in den einzelnen Bühnenräumen geschieht, trägt zum Teil verstörende bis komische Züge. So malt und schreibt Isolde mit weißen Stiften die schwarzen Wände ihres Raumes nach und nach komplett voll – teils in englischer, teils in deutscher Sprache werden dabei solch kryptische Aussagen wie „Dies ist mein Brief an eine Welt die niemals schrieb an mich“ sichtbar. Jedoch nicht für jeden im Publikum – die Sicht auf alle drei Wände ist nur aus der Mitte des Zuschauerraumes möglich. Besucher auf den seitlichen Plätzen kommen nur in den Genuss eines Teiles der geschriebenen Worte. Vielleicht auch nicht weiter tragisch, bleibt die Sinnhaftigkeit des Geschriebenen im Bezug zur eigentlichen Geschichte ja ohnehin weitgehend im Verborgenen…

Auch Tristan darf sich in seiner Aluminium-Zelle nach Herzenslust künstlerisch betätigen. Mit einem vollen Eimer roter Wandfarbe malt er zunächst andächtig ein rotes „I“ an die Wand – im Verlauf der Handlung wird daraus ein „Du“ und „Ich“. Im Zuge der fiebernden Raserei im 3. Aufzug beginnt er das „Ich“ dann komplett zu übertünchen, ehe er die restliche Farbe einfach nur noch gegen die Wand schüttet.

Dazu suhlt sich der Titelheld geradezu in der roten Farbe und bringt sich hierdurch plakativ die blutende Wunde bei. Der Transfer des Librettos auf das Geschehende ist klar erkennbar, allein die optische Umsetzung wirkt befremdlich.

Einmal gelingt ein Anflug von großem Musiktheater: Wenn Tristan und Isolde sich im 2. Aufzug zu ihrem Liebesduett aufschwingen („O sink hernieder, Nacht der Liebe“), erlischt das Licht in den übrigen vier Räumen und lediglich die Kammern der beiden Liebenden werden sanft illuminiert (Licht: Achim Köster) und mit einer Videoanimation der geliebten Person unterlegt. Hier siegt die Magie des Moments und unter dem ekstatischen Klangrausch geht das Regiekonzept für eine kurze Zeit auf.

Mit dem Ende des Liebesrausches und dem Erscheinen der Männer um König Marke ist es aber mit der optischen Schlüssigkeit schon wieder vorbei. Wenn Melot das Schwert in den Boden rammt und Tristan ein Stockwerk über ihm umfällt, dann mag das ein intellektueller Geniestreich der Regie sein, die Geschichte wird dadurch nicht wirklich erzählt.

Auch Brangäne gibt sich im 3. Aufzug in ihrem Raum ganz dem Alkohol hin und taumelt, hochgradig suizidgefährdet, hin und her, bevor sie sich weltentrückt in ihre Plastik-Badewanne legt. Überhaupt scheint jede Figur die passende alkoholische Dröhnung für sich parat zu haben –Isolde nippt stilecht an irischem Whiskey, Kurwenal bevorzugt Hopfenhaltiges aus der Dose und Marke präferiert feinsten französischen Champagner.

Zum Finale gelingt der Regie noch einmal ein optisch eindrucksvoller Effekt: Nachdem eine Figur aus dem Leben scheidet, verdunkelt sich ihr Raum und die Rückwand verschwindet und gibt den Blick in den hinteren Bühnenbereich frei. „Tot denn alles, alles tot…“– mit König Markes Worten erlöschen mit Farbe und Licht auch die Lebenslichter der handelnden Personen auf der Bühne.

Mit einer netto Spieldauer von 3.43 Std. ist Joseph Trafton mit seinem Philharmonischen Orchester Hagen bei seinem ersten Tristan-Dirigat mehr als flott unterwegs! Der 2. Aufzug gerät dabei mit 1.08 Std. sogar rekordverdächtig straff. Gibt es zu Beginn des 1. Aufzugs noch ein paar hörbare Abstimmungsschwierigkeiten, führt Trafton sein Orchester schnell in ein ruhiges Fahrwasser und ist dabei stets ein umsichtiger Kapitän. Nach langer Wagner-Abstinenz scheinen die Hagener Musiker dabei wieder große Lust und Leidenschaft an der Wagnerschen Musik zu entwickeln. Eine satte, wogende Klangwelle strömt dabei aus dem Orchestergraben des kleinen Hauses.

Nur fünfmal wird man diese Tristan-Produktion in Hagen erleben können (weitere Aufführungs-Termine am 14.04., 21.04., 26.05. und 10.06.). Dies ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass man bei der Rollenbesetzung tief für die hochkarätigen Gäste in die Tasche greift:

Die gebürtige Georgierin Khatuna Mikaberidze ist Ensemblemitglied an der Staatsoper Hannover und für die Rolle der Brangäne als Gast in Hagen verpflichtet.  Ihr samtener, ungemein wandlungsfähiger Mezzosopran ist ein Naturereignis! Ihre Warnrufe im 2. Aufzug sind der absolute Höhepunkt an diesem Abend! Ihr „Einsam wachend in der Nacht“ ist ein musikalisches Erlebnis der Extraklasse – jeder einzelne Buchstabe wird von ihr ausgesungen und ihre Stimme verströmt einen mystischen Zauber. Gänsehaut ist garantiert!

Der Ungar Zoltán Nyáry debütierte 2016 als Tristan an der Oper Graz. Er geizt nicht mit tenoraler Power, auch wenn er hin und wieder leicht zum Überdrehen der Lautstärke neigt. Seine Kondition lässt ihn den zermürbenden 3. Aufzug mit den kraftraubenden Fieberausbrüchen nahezu mühelos überstehen.

Die polnisch-österreichische Sopranistin Magdalena Anna Hofmann ist an diesem Abend eine absolute Entdeckung für die Rolle der Isolde. Mit ihren schillernden vokalen Schattierungen, ihrer fundierten Tiefe und ihren technisch versierten expressiven Ausbrüchen transportiert sie pure Emotion und Leidenschaft. Darüber hinaus gelingt es ihr, nahezu jedes gesungene Wort mit einer eindrucksvollen Textverständlichkeit über die Rampe zu bringen. Sie versteht es gekonnt mit ihren Kräften zu haushalten und dosiert ihre Stimme an den richtigen Stellen. Ihr Liebestod ist von berückender Zartheit und Wärme. Eine beeindruckende Leistung und ein Geheimtipp für die Casting-Riege größerer Häuser.

Wieland Satter legt seinen Kurwenal als groben Kraftprotz an der Seite seines Herrn Tristan an. Sein Bass-Bariton ist technisch sauber und von kernigen Klang. Dong-Won Seo als König Marke und Richard van Gemert als Melot versuchen als Vertreter des Hagener Ensembles mit der Klasse der Gäste Schritt zu halten. Dem Südkoreaner gelingt dies mit seinem warmen Bass, der seinem König Marke viel Verzweiflung und Empathie einhaucht. Authentisch zeichnet er das Bild von innerer Zerrissenheit zwischen seiner Liebe zu Tristan und seiner Enttäuschung durch den Verrat.

Der Melot von Richard van Gemert weiß zwar technisch zu überzeugen, bleibt aber in Bezug auf Durchsetzungsvermögen und Volumen deutlich hinter seinen Mitstreitern zurück. Daniel Jenz als Hirte und Stimme eines jungen Seemanns sowie Egidijus Urbonas als Steuermann runden eine ausgeglichen starke Leistung des Sänger-Ensembles ab. Dazu leistet auch der von Wolfgang Müller-Salow geleitete Chor seinen Beitrag.

Unter musikalischen Aspekten ist dieser Tristan-Abend ohnehin ein grandioser Erfolg. Die erstklassige und homogene Zusammenstellung des Sänger-Ensembles und eine tadellose, hochgradig engagierte Orchesterleistung rechtfertigen den frenetischen Jubel des Premieren-Publikums. Die Regie erntet zwar keine eindeutigen Missfallens Bekundungen, hat das große Drama von Tristan und Isolde an diesem Abend jedoch thematisch um Längen verfehlt. Modernes Regietheater zeigt häufig kreative Ideen und erstaunliche, neue Sichtweisen auf jahrhundertealte Werke – eine Tristan-Aufführung, in der sich die beiden Protagonisten erst nach dem Schlussvorhang erstmalig an diesem Abend gegenüberstehen, gehört für mich nicht dazu.

„Kind! Dieser Tristan wird was furchtbares! Dieser letzte Akt!!! – – – – – – – 

Ich fürchte die Oper wird verboten – falls durch schlechte Aufführung nicht das Ganze parodirt wird –: nur mittelmässige Aufführungen können mich retten! Vollständig gute müssen die Leute verrückt machen, – ich kann mir’s nicht anders denken. So weit hat’s noch mit mir kommen müssen!!…“ 

Es war Richard Wagner selbst, der in diesen Zeilen an seine Zürcher Muse Mathilde Wesendonk die Wirkung seines von Friedrich Nietzsche als „Opus Metaphysicum“ bezeichneten Werkes auf den Punkt brachte. Wo der Hagener Tristan in diesem Kontext einzuordnen ist, möge jeder Betrachter für sich selbst entscheiden.

Übrig bleibt wohl die Erkenntnis, dass dieses einzigartige Monumental-Werk Richard Wagners sich von keiner Regie der Welt zerstören lässt. Am Ende siegen immer die grenzenlose Schönheit und die magische Ästhetik dieser göttlichen Musik.

So auch an diesem Abend in Hagen.

Ingo Luther, 8. April 2019,
für klassik-begeistert.de

Musikalische Leitung, Joseph Trafton
Inszenierung, Jochen Biganzoli
Bühne, Wolf Gutjahr
Kostüme, Katharina Weissenborn
Dramaturgie, Francis Hüsers
Licht, Achim Köster
Tristan, Zoltán Nyári
Isolde, Magdalena Anna Hofmann
König Marke, Dong-Won Seo
Kurwenal, Wieland Satter
Brangäne, Khatuna Mikaberidze
Melot, Richard van Gemert
Ein Hirte und Stimme eines jungen Seemanns, Daniel Jenz
Steuermann, Egidijus Urbonas
Chor, Wolfgang Müller-Salow
Herrenchor und Extrachor Herren Theater Hagen
Philharmonisches Orchester Hagen

 

 

 

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