Foto: © Lorenz Kerscher, 2020
Die Entwicklung und Karriere vielversprechender NachwuchskünstlerInnen übt eine unvergleichliche Faszination aus. Es lohnt sich dabei zu sein, wenn herausragende Talente die Leiter Stufe um Stufe hochsteigen, sich weiterentwickeln und ihr Publikum immer wieder von neuem mit Sternstunden überraschen. Wir stellen Ihnen bei Klassik-begeistert jeden zweiten Donnerstag diese Rising Stars vor: junge SängerInnen, DirigentInnen und MusikerInnen mit sehr großen Begabungen, außergewöhnlichem Potenzial und ganz viel Herzblut sowie Charisma.
von Lorenz Kerscher
Im Dezember 2019 stellte Selene Zanetti die Mimì in La Bohème dar, im Januar 2020 die Marie in der Verkauften Braut und im Februar die Liù an der Seite der Turandot-Debütantin Anna Netrebko – all das auf der Bühne der Bayerischen Staatsoper. Das sah nach einem perfekten Karrierestart aus. Mit Engagements an Opernhäusern von Weltruf in der Tasche beendete sie ihr Festengagement. Voll Optimismus blickte sie in eine erfolgversprechende Zukunft. Doch dann kam Corona wie eine Windböe, die einen Skispringer genau beim Absprung trifft und seinen Traum vom gelungenen Flug zunichtemacht. Da galt es nun, einen Sturz ins Bodenlose einigermaßen unbeschadet zu überstehen und alle Hoffnung auf den zweiten Versuch zu setzen, auch wenn dieser über ein Jahr lang auf sich warten ließ. In diesem Zeitraum ermöglichte ihr der Notbetrieb ihrer bisherigen Bühne nur die Darbietung von Toscas Arie „Vissi d’arte“ in der von Marina Abramović produzierten Performance The 7 Deaths of Maria Callas und von einer erste Dame in der Zauberflöte. Alle anderen Engagements waren abgesagt.
Ich bin aber überzeugt, dass Selene Zanetti dank ihres außergewöhnlichen Talents im zweiten Anlauf kraftvoll und sicher abheben wird. Dass dieses überhaupt entdeckt wurde, beruhte auf einem eher dummen Zufall. Ihr Vater hatte zunächst den Traum, dass sie Pianistin werden sollte, also übte sie fleißig Klavier, bis sie als 15-Jährige durch einen Sturz beim Herumturnen auf dem Küchentisch einen so komplizierten Bruch des Handgelenks erlitt, dass sie ein Jahr lang pausieren musste. Ihre Lehrerin meinte, dass sie dann wenigstens die Melodien ihrer Stücke singen solle, um mit der Musik in Kontakt zu bleiben. So besuchte sie Stimmbildungskurse, doch da ihr Vater Oper nicht sonderlich mochte, dachte sie dabei nicht an eine berufliche Perspektive. Zunächst studierte sie Medizin, bis sie dann doch zum Gesangsstudium wechselte und gute Fortschritte machte. Ihr anfangs skeptischer Vater ist, wie sie sagt, heute ihr größter Fan.
35. Hans Gabor Belvedere Internationaler Gesangswettbewerb, Kapstadt 2016, Internationaler Medienpreis: Selene Zanetti singt Rusalkas „Lied an den Mond“
Im Studium hatte sie die Möglichkeit, mit Raina Kabaivanska zu arbeiten und Meisterklassen u. a. bei Katia Ricciarelli zu besuchen. Es folgten zahlreiche Wettbewerbserfolge und eine Einladung ins Opernstudio der Bayerischen Staatsoper, da man für die Produktion von Menottis „Der Konsul“ eine geeignete Darstellerin für die Rolle der Magda Sorel suchte und mit ihr fand. Von 2016 bis 2018 gehörte sie dieser Talentschmiede an und konnte sich auf der großen Bühne in kleinen und mittleren Rollen bewähren. 2018 wechselte sie ins Ensemble. Mir gegenüber äußerte sie sich damals enttäuscht darüber, dass zunächst kein größeres Rollendebüt in Aussicht war. Wenigstens erhielt sie vom Intendanten Nikolaus Bachler die Zusage, als Probencover für Anja Harteros die Desdemona in Verdis Otello zu studieren. „Vielleicht kommt dabei ja ein Einspringer heraus“, versuchte ich sie zu trösten.
Doch dann kam es anders. Scheinbar beiläufig fragte Nikolaus Bachler im Herbst 2018 nach ihren Fortschritten beim Erlernen der deutschen Sprache. Und ob sie sich vorstellen könne, die Marie in der Verkauften Braut auf Deutsch einzustudieren. Sie solle mit dem ersten Studienleiter des Hauses daran arbeiten, er selbst werde sich das demnächst anhören. In dem Glauben, es handle sich um ein Projekt für die nächste Spielzeit, sagte sie freudig zu. Doch dann stellte sich heraus, dass sie bei der in weniger als zwei Monaten geplanten Premiere für die in Mutterschutz gegangene Christiane Karg einspringen sollte. Diese Chance konnte sie nicht links liegen lassen und an einem intensiven Sprachtraining führte nun kein Weg vorbei.
#SeleneGoesBride (Videoserie der Bayerischen Staatsoper): Sprachtraining
In Videos wie in diesem Beispiel passt ihre herzliche, offene Art sowie ihr sympathischer Humor sehr schön zu der Absicht der Bayerischen Staatsoper, auch über die Internetmedien Kontakt zum Publikum herzustellen. Auch in einem eigenen Videokanal berichtet sie ehrlich und ohne Eitelkeit aus ihrem Alltag als Sängerin, so dass man sich sehr gerne in ihre Welt einfühlt. Ihr Debüt als Verkaufte Braut an der Seite von Stars wie Pavol Breslik und Günther Groissböck kann sie zweifellos als Höhepunkt verbuchen. In der vielleicht etwas zu sehr auf rustikalen Klamauk gebürsteten Produktion lieh sie einem einfachen, aber durchaus wehrhaften Bauernmädchen sehr viel Herz und Verstand und eine Stimme von blühender Strahlkraft. Honoriert wurde das mit lautem Applaus und lobenden Kritikerstimmen, auch hier in Klassik begeistert. Zweimal habe ich das auch live erlebt und in den Chor der Bravorufer eingestimmt – das waren noch Zeiten!
Die Verkaufte Braut, Bayerische Staatsoper 2018, Selene Zanetti singt „Endlich allein“
Auch an anderen Häusern konnte sie sich in großen Rollen bewähren, etwa 2018 als Mimì in La Bohème am Teatro La Fenice in Venedig und 2019 als Amelia/Maria in Verdis Simon Boccanegra in Klagenfurt. Eine Micaëla in Carmen am Teatro San Carlo in Neapel wäre Mitte 2020 geplant gewesen, über bevorstehende Engagements in den Vereinigten Staaten durfte sie noch keine Details verraten. All das hat sich zerschlagen und sie muss weiterhin darauf warten, sich mit ihrem außergewöhnlichen Potenzial der internationalen Opernwelt vorzustellen. Mit den aktuellen Videobotschaften auf ihrem YouTube-Kanal bekundet sie auf jeden Fall, dass sie neuen Mut gefasst hat. Ihre vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, fürs italienische Fach passenden stimmlichen Möglichkeiten und ihre herzliche und sympathische Ausstrahlung auf der Bühne werden ihr, gepaart mit starkem Willen und gesundem Humor, Flügel verleihen und sie bald weiter voranbringen.
Die Möglichkeit, wieder mit neuem Anlauf abzuheben, ergab sich jetzt, Ende April 2021, an der Bayerischen Staatsoper mit der Titelrolle in Ermanno Wolf-Ferraris einaktigem Zweipersonenstück „Il segreto di Susanna“. Immer noch ohne Publikum wurde das in Staatsoper.tv übertragen und steht derzeit noch bis Ende Mai als Video-on-demand zur Verfügung.
Weiterführende Information:
Biografisch sortierte Playlist in YouTube
YouTube-Kanal von Selene Zanetti
Lorenz Kerscher, 27. April 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Lorenz Kerscher, Jahrgang 1950, in Penzberg südlich von München lebend, ist von Jugend an Klassikliebhaber und gab das auch während seiner beruflichen Laufbahn als Biochemiker niemals auf. Gerne recherchiert er in den Internetmedien nach unentdeckten Juwelen und wirkt als Autor in Wikipedia an Künstlerporträts mit.
„‘Musik ist Beziehungssache‘, so lautet mein Credo. Deshalb bin ich auch als Chorsänger aktiv und treffe mich gerne mit Freunden zur Hausmusik. Eine neue Dimension der Gemeinsamkeit eröffnet sich durch die Präsenz vieler, vor allem junger Künstler im Internet, wo man Interessantes über ihre Entwicklung erfährt, Anregungen zur Entdeckung von musikalischem Neuland bekommt und auch in persönlichen Kontakt treten kann. Man ist dann kein Fremder mehr, wenn man ihnen als Autogrammjäger begegnet oder sie sogar bei einem Konzertbesuch im Publikum trifft. Das ist eine schöne Basis, um mit Begeisterung die Karrieren vielversprechender Nachwuchskünstler mitzuerleben und bei Gelegenheit auch durch Publikationen zu unterstützen.“
Rising Stars 4: Raphaela Gromes – mit dem Cello auf Entdeckungsreise
Rising Stars 2: Katharina Konradi – Sopranglanz aus östlicher Ferne
Premierenkritik Der Rosenkavalier von Richard Strauss, Bayerische Staatsoper, 21. März 2021
Frau Lange hört zu (23): Kurkonzert mit Schwiegermutter-Schmeichler