Foto © Karla Newton
Die Entwicklung und Karriere vielversprechender NachwuchskünstlerInnen übt eine unvergleichliche Faszination aus. Es lohnt sich dabei zu sein, wenn herausragende Talente die Leiter Stufe um Stufe hochsteigen, sich weiterentwickeln und ihr Publikum immer wieder von neuem mit Sternstunden überraschen. Wir stellen Ihnen bei Klassik-begeistert jeden zweiten Donnerstag diese Rising Stars vor: junge SängerInnen, DirigentInnen und MusikerInnen mit sehr großen Begabungen, außergewöhnlichem Potenzial und ganz viel Herzblut sowie Charisma.
von Dr. Lorenz Kerscher
Anders als bei Rising Stars der Gesangskunst, die oft einem sehr individuellen Werdegang gefolgt sind, ist der Weg zur Meisterschaft auf einem Instrument meist weniger spannend. Hier stellt sich der Erfolg nur durch beständiges Üben seit früher Kindheit ein. Wer sich schon als Wunderkind einen Namen gemacht hat, kommt dann wahrscheinlich auch in der obersten Solistenliga an. Technische Perfektion und bei den Damen auch glamouröses Auftreten erringen dann die Aufmerksamkeit der Medien, doch ansonsten ist die Biografie schnell in Form einiger dürrer Fakten abgehandelt.
Auch von der 1994 in der französischsprachigen Schweiz geborenen Mélodie Zhao ist zunächst zu berichten, dass sie ungewöhnlich früh ihren ersten Klavierunterricht erhielt. Ihre Eltern, ein chinesischer Geiger und die aus Malaysia stammende Mutter, hatten wenig Zeit für sie, da sie versuchten, in der Hotellerie eine Existenz aufzubauen. So erfährt man aus der Basler Zeitung, dass sie ihre Tochter zu dem dirigierenden Großvater nach Peking schickten, wo sie schon mit zweieinhalb Jahren Klavierunterricht erhielt. Mit neun Jahren in die Schweiz zurückgekehrt, setzte sie ihr Studium in Genf fort und gab dort mit 10 Jahren ihr erstes Solokonzert. 2007–2010 studierte sie am dortigen Konservatorium bei Pascal Devoyon, legte da 14-jährig ihren Bachelor und 16-jährig ihr Solisten-Master-Diplom ab und folgte ihrem Lehrer dann für ein zweites Masterstudium an die Universität der Künste Berlin. Schon sehr früh begann sie eine internationale Konzerttätigkeit, u.a. dokumentiert durch eine Aufnahme, in der die 16-jährige mit dem Shanghai Philharmonic Orchestra das dritte Klavierkonzert von Prokofiev spielt.
Prokofiev Piano Concerto 3, 3rd Mvt – Mélodie Zhao (16) & Shanghai Philharmonic
Was man hier sieht, scheint zunächst einmal alle Klischees des auf Perfektion gedrillten chinesischen Wunderkinds zu betätigen. Und doch waren zu diesem Zeitpunkt die Würfel für die Entwicklung einer künstlerischen Individualität bereits gefallen, denn Mélodie Zhao hatte kurz vorher, als 15-Jährige, ein Kompositionsstudium begonnen. Und dieses war wohl auch ein zündender Funke, um das Wesen der von ihr dargebotenen Musik im Detail zu verstehen und einen persönlichen Ausdruck zu finden. Zunächst fuhr sie jedoch noch mit spektakulären CD-Einspielungen auf der Wunderkindschiene. Mit 13 Jahren legte sie eine Aufnahme von Chopins Etüden Op. 10 und 25 vor, mit 16 folgten Liszts Études d’exécution transcendante und mit 19 beindruckte sie mit der Mammutaufgabe einer Gesamteinspielung von Beethovens Klaviersonaten. Es erschienen seither noch die beiden vollendeten Klavierkonzerte von Tchaikowsky, Solowerke von Schubert, Bach/Busoni, Chopin und Liszt sowie Joseph Haydns sämtliche Konzerte für Tasteninstrumente.
Man findet zahlreiche Ausschnitte aus diesen CDs in YouTube, doch ihren aktuellen Stand repräsentieren die Livevideos aus jüngerer Zeit. Denn inzwischen tritt sie ganz anders auf als das perfekt funktionierende 16-jährige Virtuosenwunderkind aus dem Jahr 2010. So hält es sie bei dem 2020 aufgezeichneten 5. Klavierkonzert von Beethoven vor lauter Ausdruckwillen kaum noch auf ihrem Stuhl. Bei den Tuttistellen, an denen sie pausieren kann, meint man, sie würde am liebsten aufspringen und dazu tanzen, beim Spiel hält sie wachen Blickkontakt mit Dirigent und Musikern und folgt in ihrem Gesichtsausdruck lebhaft dem musikalischen Geschehen. Ihre Begeisterung wirkt echt und dabei gelingt auch die Feinzeichnung des Soloparts sehr überzeugend.
Mélodie Zhao spielt Beethovens Klavierkonzert Nr. 5 „Emperor“ (Genf, 2020)
Wenige Wochen nach diesem Konzert kam die Coronapandemie mit all den einschneidenden Beschränkungen auch ihrer Karriere in die Quere. So produzierte sie einstündige Hauskonzerte für YouTube zugunsten von Initiativen, die zu Spenden für betroffene Künstler aufriefen, und ist damit auch jetzt noch als Interpretin von Werken von Chopin, Liszt und anderen Komponisten präsent. Vor leerem Saal spielte sie dann Anfang 2022 Rachmaninoffs Rhapsodie über ein Thema von Paganini mit dem Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt. Dass sie Zeit zum Komponieren fand, war vielleicht ein kleiner Trost in dieser für junge Künstler so schwierigen Zeit. So konnte sie, immer noch vor leerem Saal, beim Festkonzert zum 50-jährigen Bestehen diplomatischer Beziehungen zwischen China und Deutschland ihre Ode an den Frieden zur Aufführung bringen. In diesem achtminütigen Werk für Klavier, Chor und Orchester mit Anklängen an die traditionelle pentatonische Tonsprache Chinas übernimmt sie den Solopart und schlägt zu Beginn und am Ende auch sehr effektvoll auf den Gong.
https://www.youtube.com/watch?v=Hrf-VNSOhTc
(Video auf YouTube ansehen )
Mélodie Zhao – Ode to Peace (Mélodie Zhao, Ernst Senff Choir, Deutsches Symphonieorchester Berlin)
Auf ihrem Agenturprofil ist angegeben, dass sie 2019 in Berlin ein Ensemble Bluefire gründete, um in besonderen Konzertprojekten große Werke der Klassik mit ihren eigenen Kompositionen und Arrangements zu verbinden, und dass sie 2021 in der Schweiz ein SPECTRUM CLASSIC-ELECTRONIC FESTIVAL mit ähnlicher Zielsetzung ins Leben rief. Da sich darüber keine aktuelle Information finden lässt, fürchte ich, dass auch hier die Pandemie einem nachhaltigen Erfolg im Wege stand. Umso mehr hoffe ich, dass weitere solche Initiativen folgen werden, die neues Leben in die musikalische Kultur bringen können. Wenn sie als feinsinnige Solistin in Beethovens Chorfantasie all den Optimismus zum Ausdruck bringt, der in diesem Werk steckt, stärkt das meine Überzeugung, dass es ihr weiterhin gegeben sein wird, wichtige Impulse zu setzen.
https://www.youtube.com/watch?v=hL_OJpklV7s
(Video auf YouTube ansehen)
Beethoven – Chorfantasie (Mélodie Zhao, Deutsches Symphonieorchester)
Dr. Lorenz Kerscher, 28. März 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Weiterführende Information:
Biografisch sortierte Playlist in YouTube
Dr. Lorenz Kerscher
„Musik ist Beziehungssache,“ so lautet mein Credo. Deshalb bin ich auch als Chorsänger aktiv und treffe mich gerne mit Freunden zur Hausmusik. Eine neue Dimension der Gemeinsamkeit eröffnet sich durch die Präsenz vieler, vor allem junger Künstler im Internet, wo man Interessantes über ihre Entwicklung erfährt, Anregungen zur Entdeckung von musikalischem Neuland bekommt und auch in persönlichen Kontakt treten kann. Man ist dann kein Fremder mehr, wenn man ihnen als Autogrammjäger begegnet oder sie sogar bei einem Konzertbesuch im Publikum trifft. Das ist eine schöne Basis, um mit Begeisterung die Karrieren vielversprechender Nachwuchskünstler mitzuerleben und bei Gelegenheit auch durch Publikationen zu unterstützen.“