Aleix Martinez‘ Uraufführung "Äther" reißt die Zuschauer von den Stühlen

ROMANTIC EVOLUTION/S Ballettabend/August Bournonville und Aleix Martinez  Hamburgische Staatsoper, 7. Dezember 2025

Foto: Der Choreograph Aleix Martinez vor seinem Äther-Ensemble (Fotos RW)

Nach dem freundlich aufgenommenen historischen Ballett La Sylphide von August Bournonville reißt Aleix Martinez‘ Uraufführung Äther die Zuschauer von den Stühlen.

Die 50 Minuten des Stücks Äther vergingen wie im Fluge. Martinez‘ Choreographie war spannend, originell, und ohne epigonenhaft an ein Vorbild angelehnt zu sein. Zahlreiche Soli, Pas de deux und immer wieder überraschende Gruppentableaus bleiben im Gedächtnis haften.

ROMANTIC EVOLUTION/S
Ballettabend mit Werken von August Bournonville und Aleix Martinez

La Sylphide, Uraufführung 28. November 1836

Choreographie: August Bournonville
Musik: Herman Severin Løvenskjold
Inszenierung und Einstudierung: Frank Andersen, Eva Kloborg
Bühne und Kostüme: Mikael Melbye

Äther, Uraufführung 7. Dezember 2025

Choreographie, Bühnenbild und Lichtkonzept: Aleix Martinez
Musik: Pēteris Vasks, Arvo Pärt, Arnau Obiols
Kostüme: Lennart Radtke, Filmarbeit: Kiran West
Solovioline: Anton Barakhovsky, Gesang: Ida Aldrian

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Leitung: Markus Lehtinen

Hamburgische Staatsoper, 7. Dezember 2025

von Dr. Ralf Wegner

Romantic Evolution/s nennt sich dieser, zwei Stücke, ein ganz altes und ein ganz neues, integrierende Ballettabend. Es beginnt mit dem 1836 beim Königlich Dänischen Ballett uraufgeführten Ballett La Sylphide in der Choreographie von August Bournonville.  Ein schottischer Edelmann verliebt sich in ein ätherisches Geistwesen und tötet sie unwissentlich, als er ihrer habhaft wird. Eine von dem Edelmann aus dem Haus gewiesene Hexe hat an diesem tragischen Ende auch ihre Hände im Spiel. Das Bühnenbild zeigt ganz nach alter Sitte im ersten Teil die gotische Halle eines adligen Anwesens, im zweiten die Lichtung eines Waldes.

Dieses Ballett wurde schon einmal in einer Version von John Neumeier aufgeführt, so auch mit Silvia Azzoni und Hélène Bouchet als Sylphide sowie Alexandre Riabko und Tiago Bordin als Edelmann James. Letztes Jahr sahen wir denselben Stoff in München in der Version von Lacotte/Taglioni. Die jetzt aufgeführte Kopenhagener Version ist gegenüber vorhergehenden Interpretationen deutlich kürzer.

Eine federleicht auf den Spitzen dahinschwebende Ida Praetorius als körperlose Sylphide, ein ausdrucksgewandter Matias Oberlin als ihr Bewunderer James, ein stark aufspielender Louis Haslach als Hexe Madge sowie ein sprungstarker und überzeugend mimender Francesco Cortese (Gurn) zeigten ihr Können. Francesca Harvey als von James verschmähte Braut war leider wenig tänzerische Aktivität vergönnt. Dafür überzeugte sie mimisch.

Die in den Tanz immer wieder eingewobenen Pantomimen ließen keinen Zweifel an dem fortschreitenden narrativen Geschehen. Fast mehr als die Soli standen im ersten Teil die schottischen Volkstänze und nach der Pause die Formationen der zauberhaften Sylphiden im Vordergrund. Die Bühne war fast zu klein für die 53 Mitwirkenden, darunter 16 Schülerinnen und Schüler der Ballettschule.

Ida Praetorius und das La Sylphide-Ensemble

Das La Sylphide folgende Ballett Äther lässt keinen unmittelbaren Handlungsfaden erkennen. Ein junger Mann, auch hier James genannt (Jack Bruce), hockt in selbstquälerischer Haltung in einem Sessel, während weiter oben Xue Lin als Sylphe in einem weit offenen Fenster ätherisch hin und her schwebt. Einmal schreit Bruce sich die Seele aus dem Leib, er hadert offensichtlich mit der Welt, sieht wohl auch für sich keinen Ausweg.

Ein Derwisch tritt auf und dreht sich, die Bühne umkreisend, mehr als geschätzt hundertfach um sich selbst und hält dabei einen schwingenden Rock in steter Wellenbewegung. Wie Ida Stempelmann das ohne Schwindelerscheinung und mit unmittelbar spürbarer Aura schafft, ist bewunderungswürdig.

Neben zahlreichen Pas de deux, von den Paaren Ana Torrequebrada/Emiliano Torres sowie Charlotte Larzelere/Pepijn Gelderman sowie am Ende herausragend von Florian Pohl und Hayley Page getanzt, erstaunt immer wieder, mit welcher Könnerschaft Martinez die etwa 40 Tänzerinnen und Tänzer zu Bildern formt, die haften bleiben und nach einem wiederholten Sehen verlangen.

Äther: Florian Pohl, Hayley Page, Ida Stempelmann, Jack Bruce, Xue Lin, Gabriel Barbosa

Martinez überlässt den Zuschauern die Interpretation des Bühnengeschehens, er mag bei seiner Choreographie auch an den Zustand der Welt bzw. deren Zukunft gedacht haben.  Diese Assoziation entsteht beim Schlussbild, welches Jack Bruce wie in Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer von hinten, vor dem großen Fenster ins Dunkle blickend, zeigt. Derweil fängt der unten stehende Sessel Feuer und wie am Anfang schreitet eine Person mit einer Art Pflanzenaquarium über die Bühne.

Die 50 Minuten dieses Stück vergingen wie im Fluge, es war spannend, den Pas de deux und Gruppentableaus zuzuschauen, zudem wirkte die Choreographie originell, ohne epigonenhaft an ein Vorbild angelehnt zu sein. Vor allem Martinez‘ Fähigkeit, große Gruppen auf der Bühne zu hinreißenden Bildern zusammenzufügen, diese wieder aufzulösen und mit anschließenden kleineren Szenen wie den Pas de deux Dynamik und damit Spannung zu erzeugen, gefällt. Bei all dem bedient er sich auch des klassischen Tanzvokabulars. Das hat er sich von seinem Meister John Neumeier abgeschaut und sich, ohne diesen in irgendeiner Form zu imitieren, gleichzeitig von ihm emanzipiert. Martinez‘ Choreographie Äther verdient es, mehrfach angesehen zu werden.

Dr. Ralf Wegner, 8. Dezember 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

La Sylphide, Ballett in zwei Akten Bayerisches Staatsballett, Nationaltheater, 3. Dezember 2024

LA SYLPHIDE Ballett in zwei Akten Bayerische Staatsoper, Nationaltheater, 23. November 2024 PREMIERE

Frauenklang 16: Buchbesprechung Fanny Elssler in America klassik-begeistert.de, 3. Dezember 2025

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