Schammis Klassikwelt 9: “Wohin, wohin? Wohin seid ihr entschwunden?” Teil 2

Schammis Klassikwelt 9: “Wohin, wohin? Wohin seid ihr entschwunden?” Teil 2  klassik-begeistert.de, 29. Januar 2023

Fotos: Iwan S. Koslowski und Sergei J. Lemeschew –
“befreundete Rivalen” des Bolschoi Theater Moskau

 

 

 

Das Bolschoi Theater in Moskau verfügte seit Ende der Zwanziger, und dies während mehr als dreißig Jahren, über zwei lyrische Tenöre, die zum absoluten Olymp des Gesangs gehören: Iwan Semjonowitsch Koslowski und Sergei Jakowlewitsch Lemeschew. Beide hatten einen ähnlichen Werdegang: sie stammen aus einfachen Familien, sangen in ihrer Kindheit jeweils in Chören, und kamen über die Theater der russischen Provinz schließlich an das Bolschoi Theater. Hier wurden sie zu “befreundeten Rivalen” und teilten sich viele Opernrollen.

von Jean-Nico Schambourg

Teil 2: Sergei Jakowlewitsch Lemeschew

Sergei Lemeschew wurde 1902 in Stare Knjazewo geboren, einem Dorfe im Gouvernement Twer. Er studierte am Konservatorium von Moskau bei N.C. Rajskis, später dann bei Stanislawski in der Gesangklasse des Bolschoi Theaters. Da er nicht kleine Nebenrollen in Opern singen wollte,  beschloss er zuerst an kleineren Häusern die großen Tenorrollen zu erlernen und Bühnenerfahrung zu bekommen. 1926 gab er sein Debut mit der Partie des Zaren Berendei in Rimsky-Korsakovs “Snegurotchka / Schneeflöckchen” in Swedlorsk, wo er die Nachfolge von Koslowski antrat, der Swedlorsk in Richtung des Bolschoi Theaters in Moskau verlassen hatte. Über Kharbin und Tiflis kam er dann 1931 an das Bolschoi Theater in Moskau, dem er mehr als 30 Jahre angehörte.

Hier teilte er sich Repertoire und Gunst des Publikums mit Iwan Koslowski, dem der erste Teil dieses Artikels gewidmet ist. Lemeshews lyrischer Tenor hat, wie Koslowski, ein helles Timber, aber sein Klang ist männlicher als derjenige seines Kollegen. Sein Singen erscheint auch natürlicher, spontaner, weniger gekünstelt, wobei er allerdings nicht an die gesangliche Phantasie seines Mitstreiters heranreicht. Das Hauptmerkmal des Sängers, neben dem schönen Timbre und der Fähigkeit, lange hohe Töne von wunderbarer Schönheit schweben zu lassen, ist die Raffinesse, mit der er an seine Rollen herangeht.

Lemeshew war ein Idol des Publikums, vor allem des weiblichen Publikums. Er war sehr elegant und hatte großen Charme. Seine Auswirkung steigerte sich sogar durch den 1939 erschienen Film “The Musical Story” wo der Sänger die Rolle eines Taxifahrers spielt, der dank seines Gesangtalents am Bolschoi aufgenommen wird. Es sollte aber sein einziger Ausflug in die Filmbranche sein, da diese ihm nicht die Freiheiten gab, die er in der Oper vorfand.

Lemeschew konnte mit natürlicher Begabung und unerschöpflichem Fleiß sein Talent bis zum Äußersten entfalten. Seine professionelle Einstellung zum Beruf zeigt er schon in seinen Anfangsjahren, wo er den Weg über die Theater der russischen Provinz gemacht hat. Lieber als nach dem Studium Nebenrollen am Bolschoi zu singen, bevorzugte er, an kleineren Theatern die großen Tenorrollen zu erlernen und Bühnenerfahrung zu gewinnen. In den Aussagen seiner damaligen Arbeitskollegen, sei es Sänger, Theaterdirektoren oder Dirigenten, wird sein Interesse am Sich-Weiterentwickeln immer wieder hervorgehoben, ebenso wie seine Kollegialität.

Wie groß sein Fleiß war, zeigt seine Reaktion auf einen schweren Schicksalsschlag, der ihm 1942 widerfuhr. Lemeschew erkrankte schwer an einer Lungenentzündung. Die rechte Lunge kollabierte. Entgegen jedem ärztlichen Ratschlag, nahm er das Singen so bald wie möglich wieder auf. Er reduzierte seine Auftritte und änderte seine Gesangstechnik, um dieses, besonders für einen Sänger, körperliche Manko wett zu machen. So sang er während den Jahre 1942 bis 1948 nur mit einem Lungenflügel, bis auch der 2. kollabierte und künstlich aufgeblasen werden musste.

Auch dann sang er wieder weiter, wenn auch hauptsächlich Konzerte. 1953 wurde er zum “Volkskünstler der Russischen Föderation” ernannt.

 

Rollen in französischen Opern waren ein Schwerpunkt von Lemeshews Repertoire am Bolschoi Theater: Gerald in „Lakmé“ von Delibes, Nadir in Bizets „Die Perlenfischer“, die Titelrollen in Gounods „Faust“ und „Romeo und Julia“, Massenets „Werther“ und Aubers „Fra Diavolo“. Weiterhin sang er viele der lyrischen Tenorrollen in italienischen Opern, Graf Almaviva in „Der Barbier von Sevilla“, Alfredo in „La Traviata“, Rodolfo in „La Bohème“. Und vor allem natürlich die großen Partien der russischen Opernliteratur, allen voran Lenski.

Sein Lenski galt als einzigartig. In seiner Karriere sang er diese Rolle in 501 Aufführungen, ein letztes Mal 1972 zu seinem 70. Geburtstag. Er hat diese Rolle zweimal für die Schallplatte aufgenommen: 1936 unter der Leitung von Wassili Nebolsin mit dem großen Bariton Panteleimon Nortsow als Onegin und 1955 unter Boris Khaikin mit Eugeni Bjelow als Onegin und der wunderbaren Galina Wischnewskaja als Tatiana. Der ganze Charme seiner Stimme und seine makellose Artikulation kamen am vollsten in dieser Rolle zum Ausdruck. Er erkannte das romantische Geheimnis von Puschkins jugendlichem Dichter und ergründete die talentierte Verkörperung der Figur in der Musik Tschaikowskis.

 

Sein Konzertrepertoire umfasste 700 Stücke: Lieder russischer, aber auch westlicher  Komponisten. 1939 gab er eine Serie von 5 Konzerte in denen er alle Lieder von Tschaikowski aufführte. In jedes seiner Konzerte ließ er auch russische Volkslieder und Romanzen einfließen. Auch bei diesen zeigte er ein subtiles Gespür für Stil und emotionalen Inhalt jeder Romanze und jedes Liedes.


In ihren Memoiren “Galina” schrieb Wischnewskaja über Lemeschew: “In der Soviet-Union gab es nie, und wird es in den nächsten Jahren nicht geben, einen Künstler mit vergleichbarem Zauber in der Stimme, solch unwiderstehlichem Charme und Können. Alles bei ihm war genuin und künstlerisch: seine Bewegungen, seine inspirierende Mimik, sein entwaffnendes Lächeln, jede dargestellte Emotion, ob Liebe oder Hass. Immer elegant und mit besten Manieren ausgestattet, besaß er ein gutes Gespür für Bühnenkostüme. Bis zum Ende seiner Karriere verkörperte er auf der Bühne die Jugend. Noch mit siebzig versetzte er seine Bewunderer in Ekstase jedes Mal, wenn er Lenski am Bolschoi sang. In Frauen erweckte er nicht Gefühle von Leidenschaft, sondern von Zärtlichkeit und Anteilnahme, die ursprünglichsten und dauerhaftesten weiblichen Gefühle. Sergei Lemeschew, Sänger der Liebe, Sänger der Traurigkeit”.

Epilog

Man könnte glauben, Puschkin hätte mit seiner Textzeile “Wohin, wohin seid ihr verschwunden?” den Operngesang unserer Zeit beschreiben wollen. Iwan Koslowski und Sergei Lemeshew haben beide während drei Jahrzehnten eine glorreiche Zeit, nicht nur russischen Operngesangs, mitgestaltet. Auf YouTube findet man einen Filmausschnitt, der beide Sänger vereint in Lenskis Arioso aus dem ersten Akt von Eugen Onegin (als Geburtstagsständchen für Olga Kniepper, der Frau des Schriftstellers und Dramaturgen Anton Tschechow).

Auch im Tode sind diese beiden einzigartigen Tenöre sich weiterhin nahe: beide liegen begraben auf dem Moskauer Nowodewitschi-Friedhof.

Jean Nico Schambourg, 5. Februar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Schammis Klassikwelt (c) erscheint regelmäßig am Sonntag.

                                                                                                         

Jean-Nico SchambourgJahrgang 1959. Gehört einer weltlichen Minderheit an: Er ist waschechter Luxemburger! Und als solcher war es normal, Finanzwirtschaft zu studieren. Begann seine berufliche Karriere bei der Kriminalpolizei, ehe er zur Staatsbank und Staatssparkasse Luxemburg wechselte. Seit jeher interessiert ihn jede Art von Musik, aber Oper wurde seine große Liebe. Er bereist ganz Europa, um sich bekannte und unbekannte Opern und Operetten anzuhören. Nebenbei sammelt der leidenschaftliche Hobbykoch fleißig Schallplatten über klassischen Gesang (momentan ungefähr 25.000 Stück). Sang in führenden Chören in Luxemburg, verfolgt seit einigen Jahren aber ausschließlich eine Solokarriere als Bass. Sein Repertoire umfasst Lieder und Arien in zwölfSprachen. Unter der Bezeichnung “Schammilux Productions” organisiert er selbst jährlich zwei bis drei Konzerte. Perfektionierte sein Singen in Meisterkursen mit Barbara Frittoli, Jennifer Larmore sowie Ramón Vargas, organisiert von “Sequenda Luxembourg”, einer Organisation zur Förderung junger Sängertalente, geleitet von seiner Gesangslehrerin Luisa Mauro. Neu auf klassik-begeistert.de: Schammis Klassikwelt, regelmäßig am Sonntag.

Schammis Klassikwelt 8: “Wohin, wohin? Wohin seid ihr entschwunden?” Teil 1: Iwan Semjonowitsch Koslowski

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