Schweitzers Klassikwelt 10: Wo Bohuslav Martinů seine Kindheit verbrachte

Schweitzers Klassikwelt 10: Wo Bohuslav Martinů seine Kindheit verbrachte

Foto: © Lothar und Sylvia Schweitzer

Martinůs Musik begegneten wir allererst in Streichquartetten. Bei seinen Opern fällt uns immer gleich seine „Julietta“ ein. Dann „Marienspiele“, die wir im Prager Nationaltheater erlebten und als dritte Oper von den Bregenzer Festspielen her „Die Griechische Passion“, die jedoch auf uns mehr einen intellektuellen als einen emotionellen Eindruck hinterließ. Die zahlreichen andren Werke dieses Komponisten, der nicht die Popularität eines Smetana oder eines Dvořák erreichte, vermögen wir in dem hier vorgegebenen Rahmen nicht aufzuzählen. Es sind insgesamt sechzehn Opern, wie wir staunend im Bohuslav-Martinů-Zentrum seiner Geburtsstadt Polička dazu lernten, von seinen vielen symphonischen Werken gar nicht zu sprechen.

von Lothar und Sylvia Schweitzer

Mit einem befreundeten Ehepaar wurde es allmählich zur Tradition, Ausflüge zu unsrem nördlichen Nachbarn Tschechien zu machen. Es begann mit Sonntagsausflügen in die südmährische Kulturlandschaft Lednice – Valtice, die eigentlich zum Land Niederösterreich gehörte und nur wegen der Bahnlinie Znojmo – Břeclav nach dem ersten Weltkrieg der Tschechoslowakei zugeschlagen wurde, und ins malerische Städtchen Telč, in Verbindung mit der Niederösterreichischen Landesaustellung 2009 „Österreich. Tschechien. geteilt – getrennt – vereint“, anlässlich des zwanzigsten Jahrestags der Wende.

Später wurden es Ausflüge über mehrere Tage. So einmal nach Karlsbad, Franzensbad und Marienbad. Leider gab es zu der Zeit im schönen Karlsbader Stadttheater keine Opernaufführung. Dann über ein Wochenende nach Kromĕříž und Hukvaldy, dem Geburtsort von Leoš Janáček, wo er auch seinen Lebensabend verbrachte. In den dortigen Hochwäldern, von denen auch der slawisierte Name Hukvaldy stammt, kann man sich lebhaft das schlaue Füchslein seiner Oper vorstellen.

© Lothar und Sylvia Schweitzer

Unser letzter gemeinsamer Wochenendausflug stand im Zeichen von Bohuslav Martinů. Sein Geburtsort Polička liegt in Ostböhmen nahe der Grenze zu Mähren. Auf der etwas über dreistündigen Autofahrt von Wien merkten wir, welchen Reichtum landwirtschaftlich und industriell dieses Land besitzt und besaß, das nach seiner Trennung von Altösterreich auf solideren Beinen stand als unsere neu entstandene Bundesrepublik. Einen kurzen Abstecher machten wir zu den Fabriksruinen, die durch den Film „Schindlers Liste“ einen breiten Bekanntheitsgrad erreichten.

Tschechien hat in den letzten Jahrzehnten viel an Renovierungen und Aufbau geleistet. Zuerst kamen die Großstädte dran, dann die mittleren Städte und jetzt ist eine Revitalisierung der Kleinstädte wie eben Polička im Gange. Was der Architekt bei meiner alten St. Anna Apotheke unsensibel zerstörte, weil in den Sechzigerjahren Marmorverplattungen in Mode kamen, wird hier an den Holzportalen liebevoll restauriert.

© Lothar und Sylvia Schweitzer
© Lothar und Sylvia Schweitzer

Um zehn Uhr war Treffpunkt im „Bohuslav Martinů Zentrum, Stadtmuseum und Galerie Polička“. Wir gingen in Gruppe zur Stadtkirche und neigten den Kopf nach hinten in den Nacken, um zum Turmzimmer des Kirchturms hinaufzublicken. 192 Holzstufen waren hinaufzusteigen, an den großen Kirchenglocken vorbei, bis wir durch eine später eingebaute mit eingeätzter Notenschrift aus einem Autographen in das enge Wohn- und gleichzeitig Schlafzimmer der Familie Martinů blickten. Der Vater war Schuster und Türmer. Mögen die Wohn- und Lebensverhältnisse auch beengt und bescheiden gewesen sein, der Ausblick auf Stadt und Land war gewaltig und entschädigte für vieles.

© Lothar und Sylvia Schweitzer

Andere Familien lebten bescheiden genau so eng zusammen, aber in einem Kellerloch mit Ausblick auf Gehsteige oder bröckelnde Mauern. Martinů soll, wohin es ihn auch immer verschlagen hatte, sei es aus künstlerischen Beweggründen nach Paris, sei es auf der Flucht vor der nazi-deutschen Invasion in die USA, immer eine Postkarte seines Heimatortes mit sich getragen haben. Ob wohl zu seiner Zeit die Häuser auch schon in so frohen Farben leuchteten? Wir vermuten, da war alles mehr Grau in Grau.

© Lothar und Sylvia Schweitzer

Nach dem Abstieg kehrten wir zurück ins „Muzeum“. Neben der Stadtgeschichte war viel aus Martinůs Schuljahren zu besichtigen. Durch ausgestellte Dokumente lernten wir sein privates Leben kennen, das uns völlig unbekannt war. So die Pariser Jahre, wo er in Charlotte die Frau seines Lebens gefunden hatte. Die Eltern hatten sich als Schwiegertochter ein bodenständiges Mädchen aus Böhmen vorgestellt. Wir sahen Modelle von Inszenierungen seiner Opern und Schallplattenumschläge uns völlig unbekannter Werke von ihm.

© Lothar und Sylvia Schweitzer

Die „Marienspiele“ sahen wir bisher nur einmal im Prager Nationaltheater. Vor allem der dritte Teil „Die Geburt Christi“ berührte uns. Ein Schmied verweigert dem verzweifelt Unterkunft suchenden Paar eine Bleibe in seinem Haus. Die behinderte Tochter des Schmieds hört am nächsten Tag von der Geburt eines Kindes in einem nahe gelegenen Stall und eilt hin. Zurückgekehrt ist keine Behinderung mehr zu sehen. Wie sehr können wir nachempfinden, was der Vater jetzt fühlt. Wir machten uns Gedanken. Wäre dieses Stück, wenn auch nur gesprochen, nicht eine willkommene Abwechslung zu den abgespielten Krippenstücken? Zumindest für Erwachsene.

© Lothar und Sylvia Schweitzer

Die erste „Julietta“ hörten wir zu den Salzburger Festspielen, aber nur konzertant. Auf der Bühne sahen wir sie im Prager Národní divadlo und dann zu den Bregenzer Festspielen im Festspielhaus. Beruhigend unabhängig von der Witterung konnten wir durch den angrenzenden Park eine Atmosphäre etwas ähnlich Glyndebourne genießen. Nur das Mähen von Schafen fehlte. Die Inszenierung war rein optisch ohne die Musik kein Genuss. Das Bühnenbild erinnerte an eine Mülldeponie. So stellen wir uns Surrealismus nicht vor. Wie schöne Modelle und Fotografien von anderen Inszenierungen waren in der Ausstellung zu sehen.

© Lothar und Sylvia Schweitzer
© Lothar und Sylvia Schweitzer

Wie ist die wenig bekannte Oper in wenigen Sätzen zu beschreiben? Im Stück kehrt ein Mann in eine Stadt zurück auf der Suche nach einer Frau, deren schicksalhafte Begegnung er nicht ergriffen hat. Doch die Stadt ist anders geworden und ihre Menschen können sich an die Zeit, als er sie damals besuchte, nicht erinnern. Die Leute einschließlich Juliette leben bloß in der punktuellen Gegenwart. Es kommt zu absurden Situationen wie in einem Traum. Unsere Deutung geht noch weiter: Eine sich einmal gebotene und ungenutzte Chance bleibt verloren.

© Lothar und Sylvia Schweitzer
© Lothar und Sylvia Schweitzer

Zum Abschluss unsres Museumsbesuchs bewunderten wir in der Galerie die berühmte böhmische Glaskunst.

© Lothar und Sylvia Schweitzer

Nach so einem intensiven Kulturvormittag genossen wir zu Mittag das tschechische Bier, nach unserem Geschmack das beste Bräu der Welt. Am Nachmittag wanderten wir entlang der Stadtmauer, an die sich kleine Häuser anschmiegen.

Lothar und Sylvia Schweitzer, 28. Juli 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Schweitzers Klassikwelt 9: EIN ÜBERRASCHENDER OPERNABEND

Ladas Klassikwelt (c) erscheint jeden Montag.
Frau Lange hört zu (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Sommereggers Klassikwelt (c) erscheint jeden Mittwoch.
Hauters Hauspost (c) erscheint jeden zweiten Donnerstag.
Sophies Welt (c) erscheint jeden zweiten Donnerstag.
Lieses Klassikwelt (c) erscheint jeden Freitag.
Spelzhaus Spezial (c) erscheint jeden zweiten Samstag.
Der Schlauberger (c) erscheint jeden zweiten Samstag.
Ritterbands Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Sonntag.
Posers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Sonntag.

Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk  im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“

Lothar und Sylvia Schweitzer

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert