von Lothar und Sylvia Schweitzer
Es war zur Weihnachtszeit. Ich dachte zuerst, das sei eine Oper, als ich das gewaltige Orchester und die beindruckenden Chorstellen aus dem Radioapparat hörte. Erst nach der Sendung wurde ich von meiner Tante aufgeklärt, es handle sich um ein Oratorium.
Ich war etwas enttäuscht nicht gerade eine Oper erstmals erlebt zu haben. Ich stand am Anfang meiner Gymnasialzeit, aber noch weit vor meinem „Granada-Erlebnis“ (siehe Anhang unten) und hatte einen der religiös-symbolistischen Karl May-Bände, der mich etwas überforderte, zugeklappt. Aber irgendwie passte Franz Schmidts „Das Buch mit sieben Siegeln“ zu dem eben Gelesenen.
Auch die zweite Begegnung mit diesem Werk erlebte ich, dieses Mal schon bewusst, als Übertragung von den Salzburger Festspielen 1959 mit einem Kofferradio in der Hand – Walkie-Talkies und In-Ear-Kopfhörer hat es noch nicht gegeben – am Rande des Bad Schallerbacher Kurparks. Im Ohr habe ich noch heute Walter Berrys: „Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende.“ Von dieser Matinee gibt es eine Aufnahme (siehe Titelbild).
Für die erste Neuinszenierung von „Parsifal“ am Haus am Ring nach seiner Wiedereröffnung 1955 und nach einem „Parsifal“-Gastspiel der Württembergischen Staatsoper Stuttgart 1959 waren schwer Karten zu bekommen. Herbert von Karajan zeichnete verantwortlich für die musikalische Leitung und für die Inszenierung. Beeinflusst durch die Schriften Richard Wagners über das Gesamtkunstwerk Oper
musste ich kämpfen, das Radio nicht für die nur akustische Übertragung der Premiere am Karsamstag 1961 einzuschalten. Für wenige Minuten wurde ich schwach und hörte kurz Hans Hotter als idealen Gurnemanz. Endgültig ablenken konnte mich dann eine Hörspielfassung von Tolstois „Auferstehung“ auf einem anderen Sender, was ich als Erstbegegnung mit diesem Werk nicht bereute. Übrigens wurde beim damaligen „Parsifal“ bis zur 10. Aufführung am 13. Mai 1965 und ein Jahr später noch einmal die Rolle der Kundry geteilt. In Klingsors Zaubergarten sang Christa Ludwig, in den Rahmenakten Elisabeth Höngen, was meine Frau und ich nicht sinnvoll finden.
Im Sommer darauf war ich nicht mehr so dogmatisch. Es ging durch die Medien die Meldung, dem Charaktertenor (!) Gerhard Stolze, der mich in der letzten Saison als David und als Ödipus im gleichnamigen Melodram von Carl Orff begeisterte, sei in Bayreuth der Tannhäuser angeboten worden, was er jedoch abgelehnt haben soll. Nun wollte ich mir via Rundfunk ein Bild von der mir damals noch unbekannten Oper und der Titelpartie machen. Übrigens sang Stolze die Partie des Walther von der Vogelweide und Wolfgang Windgassen einen wahrscheinlich althergebrachten, klassischen Tannhäuser.
Gehen wir noch einmal in meine Gymnasialzeit zurück. Eine Sendung von „Boris Godunow“ aus der Oper Ljubljana war ein Erlebnis und Anstoß einen Querschnitt auf Schallplatte mit Nicola Rossi-Lemeni in der Titelpartie zu kaufen.
Ich weiß nicht mehr, welche Bearbeitung im Radio gebracht wurde. Aber allein die orchestralen Stellen mit ihrer Tonsprache und Lautmalerei wirkten faszinierender als die Wiedergabe auf der Schallplatte. Wiederholt hatte ich den Eindruck in einer Landschaft zu stehen und von ferne die schneidenden Geräusche eines Sägewerks zu vernehmen. Wikipedia scheint nach erfolgloser Suche dem damaligen Sänger des Zaren „keine Kränze zu flechten“. Im Gedächtnis blieb akustisch Miro Sangalowitsch hängen.
Das Fernsehen, zunächst in konservativen politischen Kreisen als Spielerei angesehen, wurde bald zur starken Konkurrenz. Heute sind meine Frau und ich bezüglich Übertragungen jeglicher Art wegen tontechnischer Veränderungen skeptisch. Aber Sylvia und ich nützen im Fernsehen die Chance Opern durch Inszenierungen mit veränderten Sichtweisen wie neu zu begegnen.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 26. Dezember 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Lothar und Sylvia Schweitzer
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“
Johann Sebastian Bach (1685—1750) Weihnachtsoratorium Elbphilharmonie, Hamburg 7. Dezember 2023