Bis heute sind die zahlreichen Schallplatten Goulds erhältlich, seine Fangemeinde ist nach wie vor groß, obwohl fast niemand davon den Pianisten jemals live erlebt hat. In Erinnerung bleibt er neben seinen unbestrittenen Fähigkeiten auch durch seine wohl autistisch begründete Exzentrik. Sich mit dem Pianisten Gould auseinanderzusetzen lohnt aber nach wie vor.
von Peter Sommeregger
Hartnäckige Gerüchte sprechen bis heute davon, der kanadische Starpianist Glenn Gould habe seinen 50. Geburtstag am 25. September 1982 in seiner Heimatstadt Toronto so exzessiv gefeiert, dass er einen Schlaganfall erlitt, an dessen Folgen er am 4. Oktober starb.
Ob wahr oder nicht, es würde zu der Exzentrik und dem ungewöhnlichen Lebenslauf des Pianisten passen. Der Sohn eines Hobby-Violinisten und einer Pianistin und Organistin, die erst 1935 ihren Familiennamen von Gold in Gould änderten, war das einzige Kind seiner Eltern. Seine Mutter wollte ihn unbedingt zum Musiker machen und unterrichtete ihn nicht weniger als sieben Jahre lang selbst. Sie verlangte von ihrem Sohn, er solle während des Klavierspiels mitsingen oder summen. Das verfestigte sich bei dem Kind so sehr, dass er auch als berühmter Pianist bei Konzerten und Plattenaufnahmen mitsang, was Tontechniker zur Verzweiflung brachte.
Ab seinem zehnten Lebensjahr besuchte Gould das Royal Conservatory of Music in Toronto, wo er im Klavierspiel, dem Orgelspiel und Musiktheorie unterrichtet wurde. Sein Klavierlehrer war Alberto Guerrero, von dem er einige Techniken übernahm, die er zeitlebens anwandte. Er benutzte keinen klassischen Klavierstuhl, sondern einen normalen Stuhl mit abgesägten Beinen.
Bereits mit 15 Jahren gab er in Toronto erste Konzerte. Seine Erfolge verschafften ihm Engagements in mehreren Städten, 1955 debütierte er mit großem Erfolg in New York. Nach dem dortigen Erfolg nahm ihn die Plattenfirma Columbia (heute Sony) unter Vertrag. Seine erste Einspielung waren die Goldberg-Variationen von J.S. Bach, die über die Jahrzehnte zu einer Ikone der Schallplattengeschichte wurde, und heute Kultstatus genießt. Noch während der 1950er Jahre verbreitete sich sein Ruhm schnell, zahlreiche berühmte Orchester und Dirigenten luden ihn zu Konzerten ein. Herbert von Karajan spielte mit ihm und den Berliner Philharmonikern im Mai 1957 das dritte Klavierkonzert von Beethoven ein. Im selben Jahr lud die Sowjetunion ihn als ersten nordamerikanischen Pianisten nach dem Krieg für Konzerte nach Moskau und Leningrad ein, die für Gould zum Triumph wurden.
Aber bereits zu dieser Zeit verstärkten sich bei dem Pianisten autistische Tendenzen. Bereits mit 32 Jahren zog sich Glenn Gould vom Konzertbetrieb zurück, trat nicht mehr öffentlich auf. Er richtete sich ein privates Aufnahmestudio ein, in dem in der Folge zahlreiche Einspielungen entstanden. Gould war über das Klavierspiel hinaus musikalisch sehr interessiert und schrieb außerdem Hörspiele und mehrere Bücher. Trotz seines frühen Rückzugs aus der Öffentlichkeit erreichte der Pianist eine erstaunliche mediale Präsenz.
Auch als Komponist betätigte sich Gould, hier sind es vor allem Transkriptionen von Kompositionen Wagners und von Richard Strauss, mit denen er Erfolg hatte. Obwohl Gould ein relativ breites Repertoire spielte, blieb er doch vor allem mit seinen Einspielungen der Musik Beethovens, noch mehr mit jener von J.S. Bach erfolgreich und in Erinnerung. Kurz vor seinem Tod entstand eine zweite Aufnahme von Bachs Goldberg-Variationen, die als seine größte pianistische Leistung galt. Die Veröffentlichung hat Gould nicht mehr erlebt.
Bis heute sind die zahlreichen Schallplatten Goulds erhältlich, seine Fangemeinde ist nach wie vor groß, obwohl fast niemand davon den Pianisten jemals live erlebt hat. In Erinnerung bleibt er neben seinen unbestrittenen Fähigkeiten auch durch seine wohl autistisch begründete Exzentrik. Sich mit dem Pianisten Gould auseinanderzusetzen lohnt aber nach wie vor.
Peter Sommeregger, 20. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Sommereggers Klassikwelt (c) erscheint jeden Mittwoch.
Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Riccardo Muti und Anna Netrebko. Seit 26 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der deutschen Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen’. Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de.
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