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Immer mehr wird klar: Wir alle sind auf uns selbst zurück geworfen, selbst enge soziale Bindungen können in der gegenwärtigen Situation nur begrenzt gepflegt werden. Selbstgenügsamkeit ist in der Generation Instagram & Co. keine weit verbreitete Eigenschaft, wäre aber ein probates Mittel gegen die nun einsetzende Frustration.
von Peter Sommeregger
Was derzeit weltweit geschieht, ist seit dem Zweiten Weltkrieg ohne Beispiel. Ganze Staaten beginnen sich abzuschotten, das öffentliche Leben kommt mehr und mehr zum Erliegen. Wer hätte so etwas in Friedenszeiten gedacht? Der Virus, der uns das eingebrockt hat, schreibt derzeit Geschichte und wir erleben sie staunend mit.
Nur langsam begreift der Einzelne, was all die einschränkenden Maßnahmen auch für ihn bedeuten. Das ist sehr unterschiedlich, Eltern schulpflichtiger Kinder, die nicht im Home-Office arbeiten können, stehen vor großen Problemen. Die sonst so ideale Betreuungsreserve Großeltern steht aus Vorsicht auch nicht zur Verfügung, der Alltag vieler Menschen muss komplett neu organisiert werden.
Als Single im Seniorenalter befindet man sich in einer wesentlich entspannteren Situation. Solange die Lebensmittelversorgung gewährleistet ist, sich sogar Nachbarn und Freunde anbieten, einem die Einkäufe abzunehmen, kann man sich entspannt zurücklehnen. Vielleicht nicht ganz, denn überdeutlich wird man darauf hingewiesen, dass man als alter Mensch, noch dazu mit einer chronischen Lungenkrankheit belastet, zur Hochrisikogruppe gehört.
Hat man erst einmal realisiert, was im Augenblick alles nicht möglich ist, beschleicht einen doch die bange Frage, wie lange man auf so viel Liebgewonnenes verzichten wird müssen. Dass diese bohrende Frage niemand beantworten kann, macht einem dann endgültig die Hilflosigkeit in der gegenwärtigen Situation klar. Vielleicht eine gute Gelegenheit, sich einzugestehen, dass es in unserem Leben keine Gewissheiten geben kann.
Für die Generation Facebook, Twitter, vernetzt bis in die intimsten Bereiche, möglicherweise ein Schock. Auf einmal ist keine Flugbuchung per Mausklick in Sekunden mehr möglich. Bereits gebuchte Reisen müssen verschoben oder verloren gegeben werden. Das schnelle Online-Date? Zu gefährlich und Angst ist der Lust größter Feind. Sich mit Freunden zum Chillen verabreden? Auch nicht ratsam, man weiß schließlich ja nicht, ob..? Das gehypte neue Café im Prenzlberg? Hat das überhaupt noch geöffnet? Die schier unerschöpflichen Möglichkeiten, die Viele sich mit ihrer konsequenten Vernetzung im Netz geschaffen zu haben glauben, werden auf einmal brüchig.
Immer mehr wird klar: Wir alle sind auf uns selbst zurück geworfen, selbst enge soziale Bindungen können in der gegenwärtigen Situation nur begrenzt gepflegt werden. Selbstgenügsamkeit ist in der Generation Instagram & Co. keine weit verbreitete Eigenschaft, wäre aber ein probates Mittel gegen die nun einsetzende Frustration.
Dabei könnte in dieser zwangsweise angeordneten Entschleunigung unseres täglichen Lebens eine große Chance und eine heilende Wirkung liegen. Glücklich, wer noch über etwas so Altmodisches wie eine private Bibliothek verfügt, in der sich auch noch nicht oder lange nicht mehr gelesene Bücher befinden. Wer in seiner noch ganz haptischen, altmodischen Tonträgersammlung kramen kann oder gar mit Muße das mechanische Grammophon aufzieht und mittels Schellackplatten Ausflüge bis ins frühe 20. Jahrhundert unternimmt. Zeit ist ein so unendlich kostbares Gut, sie nur totzuschlagen sollte bestraft werden. Aber wer es tut, bestraft sich ohnehin selbst.
Sicher, der Umgang mit dieser ungewohnten Situation muss von uns allen erst erlernt werden. Vielleicht wäre es dabei hilfreich, nicht die Dinge Revue passieren zu lassen, die man im Augenblick nicht haben kann, sondern sich daran zu erinnern, was alles auch ohne Verlassen des Hauses möglich ist. Für manche Menschen vielleicht eine Horrorvorstellung, für Andere ein Gewinn an Erkenntnis. Mit sich selbst muss man es aber aushalten können, denn „Dir kannst Du nicht entfliehn“ wusste schon der Geheimrat Goethe.
Peter Sommeregger, 17.März 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Ricardo Muti und Anna Netrebko. Seit 25 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen.‘ Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de .