Also bitte: Improvisiert, hört Musik, macht Musik, singt und tanzt daheim! Wenn Ihr Euch nicht wie die Italiener auf den Balkon traut, dann tut es wenigstens unter der Dusche. Das ist – soviel ich weiß – noch erlaubt.
von Petra Spelzhaus
Eigentlich würde ich heute Abend im Münchener Jazzclub Unterfahrt sitzen und über das Konzert der genial-verrückten Schweizer Combo „Hildegard Lernt Fliegen“ schreiben. Fliegen ist gerade nicht angesagt in Zeiten des Coronavirus.
Auch der Jazzclub hat geschlossen wie alle kulturellen Einrichtungen. Zwischenmenschliche Kontakte – zumindest physischer Art – müssen vermieden werden. Angsterfüllte Menschen plündern die Supermarktregale. Viele befinden sich in Quarantäne. Urlaubsreisen werden storniert. Die Menschen werden in Urlaub auf Balkonien geschickt, andere in Kurzarbeit. Wiederum andere sehen sich einem familiären Stresstest ausgesetzt. Die Eltern im Home-Office hocken auf engstem Raum zusammen mit ihren Kindern, die sich daheim den durch Schulschließungen verpassten Lernstoff einverleiben sollen. Die Wirtschaft ist am Boden, Existenzen sind bedroht. Die Stimmung in der Bevölkerung ist ebenso auf dem Tiefflug wie der DAX. Nicht gerade förderlich für unser Immunsystem, das aktuell mehr denn je gefragt ist.
Wir leben in turbulenten Zeiten, aber sind sie auch hoffnungslos?
Ein Hoffnungsfanal (Fanal, italienisch: Leuchte, Fackel) unserer Nachbarn in Italien erhellt allabendlich unser Gemüt. Menschen in Kollektiv-Quarantäne musizieren, singen und tanzen auf ihren Balkonen und vertreibten so den Isolationsblues.
Von so viel Lebensfreude könnten wir Deutschen noch lernen. Mögen wir es doch lieber geordnet und berechenbar. Im Land so berühmter Komponisten wie Bach, Beethoven oder Wagner erinnert gerne auch unser Leben an Werke der klassischen Musik. Kompositionen mit vertrauten Klängen, ein Andante während der Arbeit, auf dem Sofa darf es dann ein Largo sein. Es gibt Momente Mozartscher Leichtigkeit oder der Melancholie Tschaikowskis. Wir planen unser Leben, wissen gerne, was morgen passiert, wie in einer Partitur. Das gibt Sicherheit. Bevorzugt wird die Bachsche Fuge mit ihren repetitiven Motiven, die für kalkulierbare Variationen sorgen.
Und nun lässt der Corona-Virus unsere Welt aus den Fugen geraten. Wie ein Blitz schlägt er in unseren sorgsam durchgeplanten Alltag ein. Stündlich hagelt es neue Anweisungen, Anordnungen und staatliche Vorschriften. Ein Terminkalender ist plötzlich überflüssig. Wer nicht „systemrelevant“ arbeitet ist zuhause. Punkt. Aus unserem klassisch geprägten Leben ist plötzlich Jazz – zum Teil gar Freejazz – geworden.
Die um 1900 in den Südstaaten der USA geborene Jazzmusik unterliegt einen dauerhaften Wandel. Neben der charakteristischen Jazzharmonik und -rhythmik ist die Improvisation ein zentrales Merkmal. Der Musiker entwickelt in dem Augenblick, da er spielt, die Melodie. Er ist also gleichzeitig Komponist und Interpret. Er reagiert spontan auf die Ideen seiner Mitmusiker. „Falsche“ Töne können Spannung erzeugen oder verschwinden erfreulicherweise schnell in den Weiten des Orbits. Improvisationen können belanglos klingen oder magische Momente kreieren. Es ist meistens beglückend, sich in den Flow der Musik zu begeben, auch wenn unklar ist, wie und wo man rauskommt. Schon das Musikhören, umso mehr aber das Musizieren produziert Glückshormone, die Endorphine. Sie sind Wundermittel gegen Angst und Einsamkeit, sie stärken unser Immunsystem. Das gilt übrigens für jede Musikrichtung, an der man Spaß hat.
Also mein Plädoyer: Improvisiert, hört Musik, macht Musik, singt und tanzt daheim! Wenn Ihr Euch nicht wie die Italiener auf den Balkon traut, dann tut es wenigstens unter der Dusche. Das ist – soviel ich weiß – noch erlaubt.
„Life is Jazz“: Dr. Petra Spelzhaus, Fachärztin für Physikalische und Rehabilitative Medizin und Jazztrompeterin,
lebt und arbeitet in München und schreibt seit 2019 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at, 19. März 2020
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