Turandot © Monika Rittershaus, Wiener Staatsoper
Diese Regie von Claus Guth kam, sah und siegte… und zwar auf den letzten Metern! Musikalisch liefern sich Kristina Mkhitaryans Liù und Asmik Grigorians Turandot ein spannendes Sopranderby um ihren Calaf… und der Superstartenor Jonas Kaufmann hat endlich seine Paraderolle gefunden. Ganz nebenbei: Die Turandot-Tondichtung im Graben der Wiener Staatsoper.
Turandot
Musik von Giacomo Puccini
Libretto von Giuseppe Adami und Renato Simoni nach Carlo Gozzi
Wiener Staatsoper, 10. Dezember 2023
von Johannes Karl Fischer
Turandot gesteht Calaf ihre Liebe, das überglückliche Liebespaar soll nun zum Kaiserpaar gekrönt werden… doch was ist das? Turandot ergreift mit Calaf die Flucht vor ihrem Vater? Ja, und besser gesagt: Vor der Herrscherklasse Chinas.
Der Chor marschiert in Militäruniformen im Gleichschritt über die Bühne, auch der Kaiser von China scheint mehr Interesse an einem männlichen Thronfolger zu haben als an dem Wohlbefinden seiner Tochter. Das alles ist Turandot egal. Sie will nur eins, die Liebe, wie Calaf. Mit ihrer gefürchteten Härte wehrt sie sich gegen das herrschende kaiserliche Gesellschaftssystem, nicht gegen die Furcht vor dem Schicksal ihrer Vorgängerin.
Endlich hat einer mal einen zeitgemäßen wie spannenden Umgang mit diesem mittlerweile schwierigen Stoff gefunden. Ping, Pang und Pong sind nicht mehr die als Chinesen verkleideten Witzfiguren, jenseits ein paar geblümten Bodenmuster deutet wenig auf die fernöstliche Handlung hin. Stattdessen Bier trinkende Staatsminister, ein stets gefesselter Calaf und eine sich nach Freiheit sehnende Turandot. Das nennt man mal kritische Auseinandersetzung mit dem Werk!
Musikalisch gab es eine zutiefst positive Überraschung: Jonas Kaufmann kann Calaf! Endlich scheint der Superstartenor seine Rolle gefunden zu haben, so kämpft seine Stimme stets siegessicher um die Prinzessin. Anders als beim Tannhäuser findet sich keine Spur eines einzigen kratzigen Spitzentons, ganz im Gegenteil: Gerade in der Höhe dringt seine starke Stimme auch in die hintersten Ecken des Hauses ein, die zahlreichen hohen Bs und Cs können ihm den Weg nicht versperren.
Mit voller Kraft erledigt er den berühmten Schlusston von Nessun dorma und erntet dafür – zurecht – donnernden Applaus. Ob er noch zwei Stunden so hätte weiter singen können? Fraglich. Egal. Calaf ist kein Stolzing und hat schon nach zweieinhalb Stunden Feierabend.
Mindestens genauso brillant triumphiert Kristina Mkhitaryan in der Rolle der Liù. Zwei kurze Arien sind ihr wesentliches Werk an diesem Abend, doch jeder noch so kleine Ton strahlt mit unangefochtener Omnipotenz durch die Ränge wie eine siegende Titelheldin. Kaum eine Zeile dürfte so tief in die musikalische Seele eindringen wie ihre drei Worte „Principessa, l’amore!“. Kein Wunder, dass sich ihre Konkurrentin da eine Scheibe von abschneiden möchte…
Auch Asmik Grigorian meistert die Titelrolle mit beispielloser Bravour. Haushoch schwebt sie über ihrer musikalischen Begleitung, da stockt einem der Atem, wenn eine Sängerin dermaßen mühelos die Hammerarie „In questa reggia“ über die Bühne bringt. Ihr Sopran besitzt eine unendlich strahlende Leuchtkraft, mit jeder Note fesselt sie das Publikum fest an die Stuhlkante. Den Calaf hält sie stets in ihrem stimmlichen Bann, kein Wunder, dass er bis zum bitteren Ende um sie kämpft. Wenn ich einmal auf astronomischem Niveau ein ganz klein bisschen kritisch sein darf: Die Salome liegt Frau Grigorian besser. Die lässt halt nur einen und nicht am laufenden Meter Männer köpfen…
Dan Paul Dumitrescu überzeugte als stimmstarker Timur ebenso wie Jörg Schneider als herrschender Kaiser Altoum. Beiden nahm man die Fragilität ihrer Figuren bestens ab, am Ende sind sie halt beide machtlos gegen die allmächtige Liebe von Calaf und Turandot.
Einzig Martin Häßler, Norbert Ernst und Hiroshi Amako als Ministertrio (Ping, Pang und Pong) schienen mir in ihren Rollen stimmlich ganz so spaßig dabei zu sein wie die Regie, ein ganz wenig flach geriet ihre stimmliche Darbietung dieser Partien. Gerade in der eigentlich genial gestalteten Biertrinkerszene könnte man ruhig mal ein bisschen Wirtshaus-Atmosphäre in den Opernsaal bringen…
Zu guter Letzt wären da ja noch so einige Musizierende im Graben. Völlig unbeeindruckt eines eher schleppenden Dirigats von Marco Armiliato untermauerten die Wiener mal wieder ihren Ruf als weltbestes Opernorchester, bei jedem triumphalen Turandot-Motiv schienen mindestens fünf Sonnen in ihrer vollen Pracht über das Haus zu steigen. Sorry, aber da kam aus diesem Graben fast mehr Energie raus wie aus drei Alpensinfonie, das hätte man glatt auch als Turandot-Tondichtung feiern können! Auch im Chor donnerte stets der volle Zorn der unter dem Turandot-Regime Unterdrückten in alle Ecken des Hauses, das hat einen bis in die Galerie hoch regelrecht umgehauen. „Dove regna Turandot“ sollte heißen „Dove regna questo coro“.
In Sachen Strauss ist die Wiener Staatsoper sowieso unangefochten, mit dieser Turandot gelingt dem Haus am Ring nun auch ein Puccini-Paukenschlag. Rege Regie-Diskussionen – einschließlich lautstarken Buhrufen – gehören ebenso dazu wie dermaßen dominierende Turandot-Tondichtungen!
Johannes Karl Fischer, 10. Dezember 2023 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Turandot, Giacomo Puccini Wiener Staatsoper, 7. Dezember 2023 (Premiere)
Giacomo Puccini, Turandot Staatsoper Hamburg, 27. September 2023
Giacomo Puccini (1858-1924), Turandot Opernhaus Zürich, 27. Juni 2023
Was hat Herr Fischer nur genommen, dass er in seiner Beurteilung soo daneben liegt. Bitte, nennen Sie mir das Mittel, damit man es im Notfall in einer Aufführung nehmen kann.
Das war die ärgerlichste Turandot-Inszenierung, die ich im Leben gesehen habe – und ich habe etwa 30 gesehen, und der exorbitante Buh-Orkan war angebracht. Dennoch jubelt Herr Fischer. Liù war mit Abstand die beste Besetzung, gefolgt von Grigorian als Turandot.
Kaufmann hätte, wenn überhaupt, diese Rolle vor 15 Jahren singen sollen. Seine Stimme ist beschädigt von zu viel Wagner und Verismo und zu viel Singen quer durch alle Gärten, sie klingt heute flach, ausgehöhlt und müde, irgendwie gleichgültig, bei aller Anstrengung. Sein Spiel ist so, als liefere er mal eben ab, mit einer Portion Arroganz. Und ein C, im Körper verankert, mit Brustresonanz, besaß er nie, ebenso wie Domingo, dem Sony nachreiste um für Aufnahmen annähernd gute Töne einzufangen und dann einzusetzen. (Kein Vergleich mit Kaufmann natürlich). Kaufmann transponiert sehr gern und seine vermeintlichen C’s sind hochgedrückte H’s, Herr Fischer.
Schwärmen Sie weiter, in allen anderen Kritiken kommen die Mankos Kaufmanns, dem am meisten überschätzten Tenor unserer Zeit – ich habe sie alle gehört, die Rang und Namen haben –, auch zum Zug. Lernen Sie richtig hören! Ach, ich sage es nicht zum Neidischwerden: ich hörte noch Franco Corelli in der Rolle. Daneben kling Kaufmann wie ein mittelmäßiger Schüler.
Franco Bastiano
Paris V ième
Lieber Herr Bastiano,
Ich jubele ein zweites Mal — über Ihren Kommentar. Claus Guth ist ein kleiner Calixto Bieito, er inszeniert nicht das, was die Mehrheitsgesellschaft der Operngänger sehen will, sondern das, was Turandot im 21. Jahrhundert für die Bühne überhaupt relevant macht. Das wird vielen Leuten nicht gefallen. Es wird sehr laute Buh-Rufe geben. Aber das gehört dazu. Je intensiver die Diskussion, desto besser die Inszenierung, sonst müssten wir die Oper bald im Museum abstellen. Oder was wäre aus Schönbergs Zwölftonmusik ohne das Wiener Watschenkonzert 1913 — das übrigens nur einen Katzensprung vom Haus am Ring entfernt stattfand — geworden?
Apropos Kaufmann: Natürlich ist er als Tenor stark überbewertet. Sein Tannhäuser war — euphemistisch gesagt — nicht ideal. Kaum hatte ich das im Frühjahr so geschrieben, entbrannte eine wüste Diskussion, denn „mit Vogt-Fans könne man schwer diskutieren“, so der Vorwurf. Aber dieser Calaf war einfach Welten besser. Er ist vielleicht kein Pavarotti, aber wir müssen die Kirche im Dorf lassen. Wer gut singt, singt gut. Überbewertet, egal, es geht darum, ob dieser Calaf den Ansprüchen dieses Hauses entspricht, ob er bei Nessun dorma siegt oder schreit. Er konnte das singen. Das reicht.
Freundliche Grüße/Cordialement
Johannes Fischer
Lieber Herr Fischer, jeder hat auf seine Weise Recht, jedoch stellen Sie sich vor, man würde sich an literarischen Werken vergreifen, wie es in den letzten 20 Jahren Regisseure und vermeintliche an der Oper getan haben, dann ginge ein Aufschrei durch die Reihen. Man stelle sich vor, der Zauberberg würde so umgeschrieben, dass er nun in einer Pizzeria in Klosters spielt mit Diskolight und Fixern. Ich habe seit über 50 Jahren mit Sängern und Stimmen zu tun und ich erinnere mich gern an sieben Jahre mit dem Intendanten der Bonner Oper Giancarlo Del Monaco. Unter seiner Führung wurde die Bonner Oper die Scala am Rhein genannt. Zu Recht, die Weltelite der Sänger gab sich dort die Türen in die Hand.
Del Monaco war einzigartig als Regisseur. Nie war eine Oper anders, als vom Komponisten gewollt und dennoch schien sie bei ihm stets neu. Nie zu vergessen seine Andrea Chéniers, seine Toscas und Otellos. Er konnte 120 Rollen auswendig, konnte alles ansingen, auch Frauenrollen. Niemand machte ihm etwas vor. Er hatte einen kompletten Ring in der Schublade; in Bayreuth hätte er Furore gemacht. Sogar mit jedem Choristen, es waren manchmal 60 und mehr, machte er ein kurzes Einstudieren und hatte bereits das Gesamtbild im Kopf. Für einen solchen Mann können Sie gern drei Guth’s einpacken.
Aber sei’s drum, man soll alle leben lassen; allerdings sollten die, die Oper kaputtmachen, nicht mehr zum Zuge kommen. Guth gehört nicht dazu. Manches war auch gut.
Best wishes
Cordialmente
Amitiées
Beste Grüße
Mnogo pozdravi
Franco Bastiano
Paris V ième
Lieber Herr Bastiano,
Was genau meinen Sie denn mit einer Oper „nie anders als vom Komponisten gewollt“? Etwa die Museumsinszenierungen à la Otto Schenk oder Margarethe Wallmann?
Zugegeben — ich habe noch nie eine Del-Monaco-Inszenierung gesehen, aber die Bilder seiner kommenden Hamburger Cavalleria erinnern mich stark an die Jean-Pierre-Ponnelle-Inszenierung des Mascagni-Einakters… diese eher historisch orientierte Regie habe ich zuletzt im Juni in Wien gesehen, und die funktioniert auch. Warum? Weil Sizilien immer noch so aussieht und viele Leute dort 2023 kaum anders denken als 1890. Dem hat sogar ein Bekannter, der Ponnelles Bühnenbild als „Museumsstück“ bezeichnet hat und gefragt hat, wo denn bitte die Inszenierung sei, zugestimmt. Aber in diesem Stil eine Turandot zu inszenieren, ist weder zeitgemäß noch gewinnbringend und zeigt ein völlig antiquiertes Verständnis dieser Oper.
Ich empfehle Ihnen meine Rezension der neuen Berliner Bieito-Aida (https://klassik-begeistert.de/giuseppe-verdi-aida-staatsoper-unter-den-linden-berlin-9-oktober-2023). Der hat auch verstanden, was man hier eigentlich zu hören bekommt. Natürlich hätten viele Leute lieber pompöse Elefantentriumphzüge gesehen, aber die Oper ist einfach kein Platz, um die europäisch-kolonialistische Sichtweise der Suezkanaleröffnung zu feiern oder die chinesische Kaiserzeit politisch zu glorifizieren.
Freundliche Grüße/Cordialement/Cordialmente/Best wishes
Johannes Fischer
Guten Morgen Herr Bastiano,
vielleicht heißt das Mittel, welches sich Herr Fischer vor der Turandot eingeworfen hat, Unvoreingenommenheit?
Und genau darum geht es doch in einer Rezension.
Diese Inszenierung wurde mit Spannung erwartet und es war von Anfang an klar, dass sie sich gravierend von den herkömmlichen unterscheiden wird. Es war auch klar, dass JK den Calaf singen wird. Warum tun Sie sich das an? Ich käme gar nicht auf die Idee, eine Aufführung zu besuchen, viel Geld auszugeben, um mich dann die ganze Zeit zu ärgern, dass der Tenor, der in meinen Augen kein guter Sänger ist, auch tatsächlich schlecht singt. Und ich muss schon sagen, dass Ihre Bemühungen auffallend sind, die Welt davon zu überzeugen, wie schlimm sie es finden, dass JK noch so eine große Fangemeinde hat. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich finde durchaus, dass Sie in Manchem nicht unrecht haben, aber Ihre Vehemenz ist schon erstaunlich. Machen Sie doch einfach einen Bogen um Kaufmann, dann müssen Sie sich nicht so viel ärgern. Leben und leben lassen! Besinnliche Vorweihnachtzeit!
K. Beyer
Stimm-Disponenten und Stimm-Coaches wie ich gehen sehr oft in die Oper, weil man sie zur Beurteilung von Stimmen braucht. Ich gehe sicher nicht, um einen Calaf wie diesen zu hören. Ich wurde geschickt wegen der Liù, die mit Grigorian den besten Eindruck machte. Sorgen Sie sich also nicht. Kaufmann bringt mich nicht um, und mein Portemonnaie ist auch nicht belastet: ich wurde gebeten, mir die Liù genau anzuhören. Das hat sich gelohnt. Vehement geurteilt: sie war die beste Besetzung.
Cordialmente
Franco Bastiano
Paris V ième
Lieber Herr Fischer, der entscheidende Nebensatz war: …und dennoch schien sie bei ihm stets neu. Man hatte bei Del Monaco den Einduck, man habe die Opern vorher noch nie richtig gesehen und gehört. Die legendäre Inszenierung von La fanciulla del West wurde übrigens in Bonn entwickelt und lief da häufig. Später an der MET: In Bonn sangen Domingo, Barbara Daniels und Sherrill Milnes in den Hauptrollen. Es war Del Monaco, der als erster filigran den frühen Verismo der Cavalleria rusticana und der Pagliacci verwob, sogar hintereinander pausenlos zeigte und verblüffend die Instinkte freilegte. Jürgen Rose machte das Bühnenbild für Bonn, wo die Opern mit Riesenerfolg liefen.
Es waren tolle Zeiten, damals war die junge Anja Harteros in Bonn fest engagiert. Leider kann ich hier nicht länger schreiben, bin, auch noch mit 82, auf dem Sprung zum Flughafen Charles de Gaulle.
À bientôt
Franco Bastiano
Paris V ième
Lieber Herr Bastiano,
Ich möchte die musikalische Qualität der Bonner Oper unter Del Monaco gar nicht in Frage stellen. Auch das Theater Kiel, heutzutage ein armes, provinzielles Landestheater, hatte einst Tennstedt, Struckmann, zuletzt sogar noch Kirsten Harms. Kiel war mal eins der wichtigen „Sprungbretttheater“ und dafür auch überregional, wenn nicht gar international bekannt.
Das alles hat mit meiner Argumentation aber nichts zu tun. Sie nennen einen ganz wichtigen Namen, Jürgen Rose, einer der wichtigsten Bühnen- und Kostümbildner der jüngeren Operngeschichte. Was der macht, ist zwar genial, aber definitiv nicht neu, vielmehr das Feindbild aller AnhängerInnen des modernen Regietheaters. Ein Blick in das Archiv der Wiener Staatsoper verrät alles: Otto Schenk-Meistersinger, August-Everding-Parsifal, Boleslaw-Barlog-Salome… Meistersinger in einer mittelalterlichen Schusterstube mag noch funktionieren, aber eine Turandot in diesem Stil ist weder zeitgemäß noch gewinnbringend für den Ruf des Musiktheaters. Auch das erzkonservative New Yorker Publikum wird irgendwann erkennen müssen, dass Jürgen Rose, Otto Schenk und Co. die Met derzeit auf den Weg ins Museum führen. Man siehe den jüngsten Otto-Schenk-Tannhäuser… ein Museum ist zu gut!
Freundliche Grüße
Johannes Fischer