Foto: © Christine Schneider
Festival junger Künstler Bayreuth 2020
Interview mit dem Konzertorganisten und Dirigenten Hansjörg Albrecht
Hansjörg Albrecht zählt zu den wenigen Künstlern, die international sowohl als Dirigent als auch als Konzertorganist regelmäßig präsent sind. Er gilt als musikalischer Grenzgänger und Querdenker ohne Berührungsängste. Als Dirigent geht er konsequent eigene Wege – zwischen Archiv und Neuschöpfung und mit einem umfangreichen Repertoire von Bach bis Gubaidulina. Mit seinen Orgeltranskritptionen etablierte er sich als Spezialist unter den Virtuosen seines Instruments. Beim Label Oehms Classics legte er bisher über 25 vielbeachtete CDs vor. 2013 wurde er für einen Grammy Award Nominiert.
Anlässlich des Konzerts „Wagner vermisst seine Festspiele“, das der Organist zusammen mit dem Perkussionisten Christian Felix Benning im Rahmen des „Festival junger Künstler Bayreuth“ aufgeführt hat, hat klassik-begeistert.de Hansjörg Albrecht zum Gespräch getroffen.
Interview: Jolanta Łada-Zielke
Der Münchener Bach-Chor, dessen künstlerischer Leiter Sie sind, gedenkt Ende Juli traditionell mit einem Konzert Bachs Todestag. 2020 sind genau 270 Jahre seit dem Tod des Komponisten vergangen, aber Konzerte mit großen Ensembles (vor allem mit Chören) sind aufgrund der Corona-Pandemie nicht möglich. Haben Sie unter diesen schwierigen Bedingungen doch einen Auftritt mit Ihrem Chor organisieren können?
Hansjörg Albrecht: Aufgrund der andauernden Pandemie und der Ängste an vielen Orten, möglicherweise etwas falsch zu machen (und auch den organisatorisch-logistischen Mehraufwand zu scheuen), konnte leider kein Chorkonzert zum 270. Bach-Todestag stattfinden, obwohl wir alles versucht haben, um in eine der großen Kirchen in München hineinzukommen. Ich habe zwei Orgel-Choralbearbeitungen Bachs über „Jesu, meine Freude“ in der barocken Stadtkirche St. Peter in München eingespielt. Mit dem Bach-Chor haben wir in einer der großen Hallen der Messe München die Eingangsstrophe der gleichnamigen Bach-Motette fürs Netz aufgezeichnet – in einem großen Kreis aufgestellt und mit fliegender Kamera aus der Vogelperspektive gefilmt. Das war unsere spezielle musikalische Botschaft. Mir war es ganz wichtig, ein solch kleines Zeichen zu setzen, und zwar, um zu zeigen, dass der Münchener Bach-Chor A: noch da ist, und B: dass man solche zur Tradition gewordenen Konzerttermine jetzt nach Möglichkeit zumindest in einer „Ersatzform“ erhalten soll, damit nicht alles der Pandemie zum Opfer fällt.
Die Pandemie ist noch nicht zu Ende, aber seit zwei Monaten sind bereits wieder kleine Konzerte in reduzierter Besetzung möglich. Ist das ein Zeichen der Hoffnung?
Grundsätzlich natürlich ja. Der Wille, etwas neu auf die Beine zu stellen und endlich wieder beginnen zu können, ist bei vielen Leuten aus der Kulturbranche da, aber es gibt leider noch immer zu viele Stolpersteine auf dem Weg der Realisierung. Von der Politik kommt die Ermunterung, doch kreativ zu sein – doch gleichzeitig gibt es zu viele ernüchternde Festlegungen von gesundheitspolitischen Entscheidungsträgern – zum Beispiel in Form andauernder Auftrittsverbote für Chöre in Konzertsälen und Kirchen – oder wirtschaftlich vollkommen unsinnigen Ausgangssituationen (zu wenig Publikum = zu wenig Einnahmen), die es den Kulturmachern nicht gerade leicht machen, kreativ zu werden.
Viele Projekte sind – zumal auf dem freien Markt – zumindest aktuell eher schwierig oder fast unmöglich in ihrer Realisierung. Man landet leider, aus der Not heraus, doch immer wieder bei Videos. Die Menschen gewöhnen sich jedoch daran. Dass all diese Musikfilme und Clips meistens ohne Honorare hergestellt werden und ohne Rechtesicherung- und Abgeltung einfach im Netz landen und kostenlos konsumiert werden können, bringt den Kulturbetrieb leider nicht wieder auf die Beine.
Allerdings kommen eine Reihe Kulturschaffender auch auf wirklich verrückte und ungemein kreative Ideen: Einer der aktuellen Wagner-Tenöre, Stefan Vinke, der dieses Jahr hier in Bayreuth singen sollte, veranstaltete zum Beispiel ein Gartenkonzert mit Ausschnitten aus Wagners Oeuvre – vorgetragen vor achtzig Zuschauern/Zuhörern, die bei ihm im Garten saßen. Beim parallel stattfindenden Live-Streaming waren das 100.000 Menschen, die sich dort dazu geschaltet haben.
Mirella Hagen, Robin Engelen, Festival junger Künstler Bayreuth, Steingraeberhaus, 2. August 2020
Ob man mit den zahlreichen verkleinerten Konzertformaten jedoch wirklich beim Publikum „landet“ und es nach und nach wieder in die Live-Konzerte bringt, vermag aktuell kaum jemand richtig zu prognostizieren. Die Hoffnung, dass Menschen wieder live gespielte Musik erleben wollen, ist groß.
Spürbare Erleichterungen von Seiten der Politik beim Wiederermöglichen, dem politischen Anerkennen, dass die Wertekette der Kulturindustrie doch enorm groß – und daher auch vehement unterstützungswürdig ist – und der Abbau von Ungleichbehandlung würden uns allen helfen.
Die Systemrelevanz ist das Zauberwort. Mehr Förderung und Ermöglichung wären höchst wünschenswert.
Man hat schon jetzt Angst vor der zweiten Pandemie-Welle, weil Menschen in Urlaubsorten die Sicherheitsregeln nicht einhalten.
Ja, das ist richtig. Und doch gibt es auch positive Gegenbeispiele: Das Nordseebad Cuxhaven ist aktuell einer der „Hotspots“ für Urlauber, die an die See wollen. Bei circa 100.000 Einwohnern im Landkreis und noch circa 150.000 Touristen, die großenteils ohne Masken herumlaufen, gab es im Juli innerhalb von zwei Wochen nur eine einzige Infektion! Dagegen stehen natürlich unter anderem Russland, Brasilien und Amerika mit ihren vielen tausenden von Toten und Infizierten.
Jedenfalls ist für die Kunst die aktuelle Zeit extrem anstrengend – und ich sehe noch nicht, dass man sich von Seiten der Politik aus darauf besinnt und konstruktiv reagiert, dass Deutschland das Kulturland Nummer 1 in der Welt ist und dieses hohe Gut dringend geschützt werden muss.
Umso mehr freuen wir uns, dass das 70. Festival junger Künstler Bayreuth stattgefunden hat, in dessen Rahmen auch Sie, zusammen mit dem Perkussionisten Christian Felix Benning, unter anderem Werke von Richard Wagner aufgeführt haben. Das Konzert hieß „Wagner vermisst seine Festspiele“. In einem früheren Interview haben Sie mir schon von Ihrer Faszination für Schlagzeug und Rhythmus erzählt. Ist die Idee des Konzertes aus dieser Faszination heraus entstanden?
Ja, als Kind wollte ich unbedingt Schlagzeuger werden, und alles, was mit Percussion und Rhythmus zu tun hat, übt auf mich bis heute eine unglaubliche Faszination aus. Die Geschichte des aktuellen Bayreuth-Gastspiels ist jedoch ein bisschen länger. Die ursprüngliche Idee war, dass ich während der Zeit der Wagner-Festspiele auch 2020 wieder ein Orgel-Recital mit Transkriptionen von Werken Wagners an der großen symphonischen Doppelorgelanlage der evangelischen Stadtkirche aufführen wollte. Ich habe hier schon zweimal den „Ring ohne Worte“ in der Orgelfassung gespielt und wollte dieses Jahr einige Wagner-Ouvertüren spielen. Als Konzerttermin hatte ich mir den 4. August, einen der wenigen spielfreien Tage, ausgesucht. Ich fand aber keinen Sponsor und dachte dann, dass für mich die Sache mit Bayreuth dieses Jahr damit erledigt sei. Mitte Mai rief mich jedoch Sissy Thammer, die ungemein kreative und rührige Festival-Intendantin an und sagte: „Ich brauche Deine Hilfe. Kannst Du zu uns mit irgendeinem schönen Programm kommen?“. Ich antwortete ihr: „Ja, gerne. Ich komme, und zwar mit den Wagner-Orgeltranskriptionen. Wenn ihr jetzt in Bayreuth keine Wagner-Festspiele habt, muss doch etwas von Wagner aufgeführt werden.“ Auf Christian Felix Benning bin ich gestoßen, weil er bei uns im Münchener Bach-Orchester mehrfach gespielt hat. Jetzt, zu Corona-Zeiten, verfügt er über eine unglaubliche Flexibilität und einen Ideenreichtum und produziert ganze Konzerte fürs Netz aus seinem Studio heraus. Das Konzert „Wagner vermisst seine Festspiele“ ist unser erstes gemeinsames Projekt gewesen und hat das Potential zu einer Fortführung.
Am Anfang und am Ende des Auftritts haben Sie zwei von Ihnen beiden arrangierte Stücke aufgeführt: „Tannhäuser in Paris“ und die „Improvisation über Themen aus Wagners „Ring“. Mussten Sie sich dafür persönlich treffen oder geschah die Vorbereitung der Werke virtuell?
Nein, gar nicht. Alles wurde vor Ort gemacht. „Tannhäuser in Paris“ ist nur der Anfang des originalen Vorspiels und geht nur bis zum ersten großen Orchester-Tutti. Wir haben das „Tannhäuser in Paris“ genannt, um einen Bezug zum nächsten Komponisten, dem ehemaligen Organisten von Notre-Dame, Pierre Cochereau zu bekommen. Es ging mit einer Art Klangimprovisation mit Percussion los, und irgendwo in dieser Atmosphäre des Percussion-Nebels, kam der „Tannhäuser“ quasi aus dem Nichts. Irgendwann verabschiedete sich das Schlagzeug – vor allem die Röhrenglocken – und das nächste Stück fing an. Das ganze Konzert ging quasi ohne Punkt und Komma durch. Es gab keinen Zwischenapplaus, die Stücke gingen nahtlos ineinander über. Das hat so schon mit großer Freude der österreichische Pianist Friedrich Gulda bei seinen Konzerten praktiziert, der Musik unter anderem von Mozart, Chopin oder auch Jazzmusik, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, hintereinander spielte. Und plötzlich bekommt das, was gespielt wird und das, was folgt, eine vollkommen neue Perspektive.
Was mich persönlich in diesem Konzert überrascht hat, war die Tatsache, dass diese Verbindung – Percussion und Orgel – keine neue Idee ist.
Es gibt eine Menge Komponisten wie zum Beispiel Petr Eben, Thilo Medek, Egil Hovland, Jean Guillou und Thierry Escaich, die Stücke für solche Besetzung komponiert haben. Die Idee „Orgel und Percussion“ ist von der Verbindung „Percussion und Orchester“ abgeleitet. Die Orgel ist ja quasi ein eigenständiges – wenngleich „anderes“ Orchester. Ich spreche jetzt bewusst nicht von „Orchester-Ersatz“. Es gibt eine ganze Menge Kompositionen für diese Besetzung. Interessanterweise ist der „Bolero“ von Cochereau, den wir direkt nach der kurzen Eingangssequenz gespielt haben, eins der besten Stücke in diesem Genre. Allerdings war das ursprünglich eine Orgel-Improvisation Cochereaus in Notre-Dame in Paris, die er auf einem gleichbleibenden Trommelrhythmus improvisiert hat. Vor ein paar Jahren hat man dieses Stück, wie etliche andere der ungemein genialen Improvisationen von Cochereau, rekonstruiert; das heißt, vom Band abgehört und aufgeschrieben.
Der „Bolero“ basiert auf einem Thema des französischen Barock-Organisten Charles Raquet. Cochereau ließ sich also von dem Stück eines älteren Kollegen inspirieren?
Ja, sozusagen. Er hat eine gigantische Improvisation live darüber entstehen lassen, die fast eine Viertelstunde dauert. Wenn man das Stück orchestrieren würde, könnte diese Neuschöpfung dem Bolero Maurice Ravels durchaus Konkurrenz bieten. Allerdings ist Ravels orchestraler Dauerbrenner eine ununterbrochene und einzigartige Steigerung, die an ihrem Höhepunkt plötzlich abbricht. Cochereau hingegen beginnt aus dem Nichts und endet im Nichts.
Und die zweite Überraschung: Die Orgeltranskriptionen der Werke Wagners sind auch nicht neu. Das Vorspiel zu „Die Meistersinger von Nürnberg“ wurde bereits von Edwin Henry Lemare und das zu „Tristan und Isolde“ von Erwin Horn übertragen. Sie haben beide Stücke mit Percussion-Begleitung – vor allem Glocken und Becken – präsentiert. War die Idee, Wagners Werke für die Orgel umzuschreiben, weiter verbreitet?
Die Idee der Transkriptionen, speziell von Wagners Musik, hat sich vor allem am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt. In Deutschland war es unter anderem Sigfrid Karg-Elert, der in Leipzig wirkte. In England war es der Orgelvirtuose Edwin Henry Lemare, der später in die USA ging und seine Wagner-Transkriptionen vor ausverkauften Hallen mit tausenden von Zuhörern spielte. Diese Hochform der orchestralen Orgel-Bearbeitung kommt aus der Tradition der englischen Town-Hall-Orgeln, denn man wollte in diesen Konzertsälen – außerhalb der Kathedralen und der Gottesdienste – dem Publikum regelmäßig etwas Besonderes bieten. Orchester wären zu teuer gewesen; die englischen Orchester waren damals zudem auch nicht so häufig im Dienst.
Die Geschichte der englischen Town-Hall-Orgeln ist anders, als beispielsweise die der „normalen“ Kirchenorgeln Deutschlands oder der französischen Kathedralen. Die Aufgabe der Kirchenorgel war die Umrahmung der Messen und Gottesdienste. [Anmerkung: Eine Ausnahme bildet in Frankreich jedoch die 1900 bei der Weltausstellung in Paris errichtete Saalorgel im „Trocadero“, der großen Konzerthalle am Eifelturm. Dort entstand eine französische Variante der Konzerthallen-Orgelrecitale].
In den englischen Town Halls spielte man zur Unterhaltung des Publikums. Das ging am besten mit bekannten Orchesterwerken und Klavierstücken – doch dafür mussten diese Werke auf die Orgel übertragen werden.
Als Solist an der Orgel und leidenschaftlicher Spieler von Orgeltranskriptionen finde ich, dass dadurch die Musik Wagners eine andere, neuartige Ausdruckspalette bekommt – aber ebenso profitiert durch Wagner auch das Instrument Orgel. Ich liebe Johann Sebastian Bach und Olivier Messiaen, für mich sind sie die Größten – auch im Komponieren ihrer Orgelwerke. Aber die Musik von Wagner (und neben ihm auch unter anderen Rachmaninow, Debussy, Ravel und Stravinsky) ermöglicht in der Übertragung auf die Orgel eine komplett neue Skala an Farben und sinnlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Obwohl das Einregistrieren (das Orchestrieren auf der Orgel) und Spielen dieser symphonischen Transkriptionen extrem anspruchsvoll ist, so erfüllt es mich doch inhaltlich als Musiker auf ganz besondere Weise, denn mir ist es wichtig, die Orgel als „Königin der Instrumente“ allumfassend und mit Tiefgang dem Publikum zu präsentieren.
Inwieweit sind andere Komponisten, die schon Orgeltranskriptionen von Wagners Musik verfasst haben, eine Inspiration für Sie? Oder ist es Wagner pur?
Ich selber habe eigentlich nur das Rheingold-Vorspiel für Orgel bearbeitet – die anderen Transkriptionen gibt es schon. Allerdings gehe ich bei all diesen Überarbeitungen vom puren Wagner und den Originalpartituren aus. Wenn ich mich mit Transkriptionen beschäftige, gehe ich jedes Stück mit der Partitur Takt für Takt durch und schaue, wo eventuell wichtige Dinge fehlen und wo etwas ergänzt werden muss. Bei Erwin Horns Tristan-Orgelfassung habe ich auf die klangliche Gestaltung geschaut: Wo und was spielen zum Beispiel die Violoncelli, in welcher Lage spielen sie, wo werden die Seiten im Pizzicato gezupft oder wo spielen sie ein gebundenes Legato, wann spielen die Holzbläser, wann kommt das Blech hinzu… Ich finde einfach, dass man der Originalmusik noch näherkommt, wenn man mit der Partitur des Originals arbeitet. Diese Detailarbeit zahlt sich dann beim Spielen für das Publikum in hohem Maße aus – und darum geht es ja schließlich beim Konzertieren und Interpretieren, nämlich dem Nahekommen der Grundidee der Komponisten.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Jolanta Lada-Zielke, 16. August 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at