Kein alkoholisches Getränk, kein Halluzinogen dieser Welt wäre in der Lage auch nur annähernd einen derart berauschenden Nebel zu erzeugen, wie ihn Thielemann, der alte Parfümeur und Giftmischer, hervorzuzaubern vermag.
Foto: ©Matthias Creutziger
Musikverein Wien, Großer Saal, 28. April 2019
Wiener Philharmoniker, Orchester
Christian Thielemann, Dirigent
Christian Mason
Eternity in an hour
Anton Bruckner
Symphonie Nr. 2 c-Moll; Fassung 1877
von Jürgen Pathy
„Eternity in a hour“ lautet das Orchesterwerk des zeitgenössischen Komponisten Christian Mason, dessen Werk unter keinem Geringeren als „Kapellmeister“ – Maestro will er nicht genannt werden – Christian Thielemann, 60, und den Wiener Philharmonikern im Musikverein Wien erst zum zweiten Mal vor Publikum präsentiert wird.
Ein psychedelisch anmutender Flug durch Raum und Zeit, der getränkt ist von obertonreichen Klängen, deren Ursprungsinstrumente nicht immer sofort deklariert werden können. Von Didgeridoos, Maultrommeln und verzehrten E-Gitarren-Riffs bis hin zu kreischenden Violinen reichen die Assoziationen, die von dieser schrägen Klangkulisse hervorgerufen werden. Beinahe wähnt man sich aufgrund der Deckenventilatoren, die immer mehr an Helikopter-Propeller erinnern, schon im Saigon der 1970er-Jahre, hin– und hergerissen zwischen Opiumhöhle und Schlachtfeld, wäre da nicht die Pause, die der intensiven, aber kurzen Reise ein abruptes Ende setzt.
Doch die Pause weilt kurz, dauert zum Glück keine Ewigkeit. Scheinbar mühelos vollzieht Thielemann den Sprung aus dem umkämpften Saigon ins idyllische Alpenvorland des Anton Bruckner. Es folgt eine knappe Stunde, in der Thielemann und die Wiener Philharmoniker mit der Bruckner‘ schen Zweiten einen sonntägigen Frühschoppen bescheren, der sich den Beinamen „Eternity in a hour“ ebenso verdient hätte.
Bis in an alle Ewigkeit und wieder zurück könnte diese musikalische Sternstunde im Goldenen Saal dauern. Kein alkoholisches Getränk, kein Halluzinogen dieser Welt wäre in der Lage auch nur annähernd einen derart berauschenden Nebel zu erzeugen, wie ihn Thielemann, der alte Parfümeur und Giftmischer, hervorzuzaubern vermag.
Aufwühlend und ergreifend zugleich das Moderato; schwungvoll und explosiv das Scherzo; impulsiv, luftig und würdevoll elegant das Finale – und dazwischen ein erhebendes Andante, dessen Reinheit, Schönheit und Intensität beinahe schmerzt. So muss sich Parsifal gefühlt haben, als er zum ersten Mal den heiligen Gral erblickte, Adam und Eva im Angesicht des Garten Edens und alle Auserwählten beim Eintritt in das Paradies. Und als wäre all der Klangzauber nicht genug des Guten, spielt der Sonnenschein, der mal stärker, mal schwächer durch die Fenster hereinstrahlt, in aller Farbenpracht auf der Lichtorgel und beschert ein Fest für alle Sinne.
Ein Fest, das Christian Thielemann, der Meister des romantischen Schönklangs, regelmäßig imstande ist zu liefern. Egal ob Dresdner Staatskapelle oder Wiener Philharmoniker, wo Thielemann drauf steht, ist höchste Qualität nicht fern. Genauso erfüllt und rundum zufrieden hat man den Goldenen Saal Ende Januar des Jahres verlassen, als der Ausnahmedirigent mit seiner Staatskapelle Dresden ebenfalls mit der Bruckner‘ schen Zweiten in der Fassung von 1877 in Wien gastierte. Einziger Unterschied: Bei der Staatskapelle schmeckt Bruckner wie ein luftiger Weißwein, bei den Wiener Philharmonikern etwas erdiger, wie ein fruchtiger Rotwein.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 28. April 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at