Lieber Säugling: Schlafen Sie wohl, genießen Sie morgen Mamas Brust und feiern Sie mit ihr den jüngsten Messiaen-Besucher weltweit aller Zeiten. Respekt, dass Sie am Montag so lange durchgehalten haben. In der Elphi!
Foto: © Maxim Schulz
Elbphilharmonie, Hamburg, 5. September 2022
Wiener Philharmoniker
Betrand Chamayou (Klavier, statt der erkrankten Yuja Wang)
Cecile Lartigau (Ondes Martenot)
Esa-Pekka Salonen (Dirigent)
Olivier Messiaen
Turangalila-Sinfonie für Klavier, Ondes Martenot und Orchester
von Andreas Schmidt
Würden Sie mit Ihrer Partnerin / Ihrem Partner 400 minus 4 Euro für ein Konzert im von den Baukosten her teuersten Konzerttempel der Welt ausgeben, es spielt das anerkannt beste Orchester der Welt… moin moin, wir sind in der Elbphilharmonie an der Hafenkante der zweitgrößten deutschen Stadt, und ein Säugling, ca. ein Jahr alt, schreit während des Konzerts.
Dies ist kein Witz aus der wunderbaren, aber an Publikumspeinlichkeiten und -eklats bekannten Elbphilharmonie.
Dies ist Konzertrealität im September 2022.
Die Elphi ist ja mittlerweile weltberühmt: Tolle Architektur, tolle Akustik, tolle Orchester, tolle Künstler … aber zu wenig Damentoiletten, viele Zuschauer, die quatschen, fotografieren, filmen, herumlaufen, ihre regen- oder schneenassen Daunenjacken mitbringen in den Saal (was der Elphi-Chef gestattet und weltweit unüblich ist).
Ein Elphi-Konzert, das wegen Lärms von einem Star-Dirigenten gar unterbrochen wurde. 2 Mal. In der ganzen Welt wurde darüber berichtet.
In der Elphi nennt man so etwas sinngemäß „gelebte Demokratie“.
Wir nennen es bei klassik-begeistert.de einen Kotau vor der UN-Kultur.
Die Elphi-Lenker und -Denker, Hamburgs Erster Bürgermeister und der Kultursenator der schönsten (und wohlhabendsten) deutschen Stadt vergessen jedoch, dass 95 Prozent der Zuschauer während des Konzerts einfach nur Ruhe, Ruhe, Ruhe haben wollen… Ruhe für göttliche Stunden, für die in der Elphi bei DEN WUNDERBAREN Orchestern und Solisten fast immer vollständig gesorgt wäre…
… wären da nicht die 5 bis 8 Prozent der Kulturfremden und -fernen, die eigentlich lieber auf den Dom, zum „König der Löwen“ oder auf den Kiez gehen wollten… aber auf ein Selfie in der europäischen landmark Elphi nicht verzichten wollen.
Am Montag, 5. September 2022, nun höre ich nach meinen rund 200 Elphi-Besuchen, erstmals einen Säugling im Großen Saal!
Moin moin, lieber Erdenbürger! Echt leiwand, dass Deine Mama Dich mitgebracht hat, Du hattest ja auch sicher nichts besseres vor…
Echt leiwand, lieber gebürtiger Wiener Herr Lieben-Seutter, Sie haben den Säugling ja auch gehört.
Pro Säugling: Das liebe Gotteskind plärrte nur 5 Mal.
Pro Säugling: Das liebe Gotteskind war nicht daran schuld, dass während ! der in den Jahren 1946 bis 1948 entstandenen Komposition (90 Minuten ohne Pause) etwa 150 Zuschauer vorzeitig den Saal verließen und etwa 150 erst gar nicht gekommen waren.
Es lag schlicht und ergreifend an einer Komposition, „Neue Musik“, die die meisten Menschen in Norddeutschland (und da kommen die meisten Besucher her) in der Eröffnungswoche der Saison 2022/2023 nicht hören wollen.
Es ist bewegende Musik. Es ist aufrüttelnde, oft atonale Musik. Es ist Musik entstanden nach den Wirren des Zweiten Weltkriegs. Es ist alles andere als ein, wie im Programmheft verkündet, „Gesang der Liebe“.
Die zeitgenössischen Kompositionen des genialen finnischen Dirigenten erreichen die Menschen im Jahr 2022 mehr als die Nachkriegskomposition des Franzosen. Esa-Pekka Salonen bekam dafür in der vergangenen Saison als Komponist UND Dirigent VIEL mehr Applaus als an diesem Abend – mit dem, ich wiederhole mich, besten Orchester der Welt.
Mit Messiaen konnte der überwiegende Teil des Publikums nichts anfangen. Die meisten waren ein bisschen bis sehr genervt.
„Das war heute Hirnmusik, keine Herzensmusik“, sagte ein 50-Jähriger aus Hamburg-Eimsbüttel.
Die Wiener waren wie immer leiwand. Aber ihre Kernkompetenz sind Götter wie Mozart, Schubert, Beethoven, Brahms, Bruckner, Mahler… und das (überschätzte) Neujahrskonzert im Goldenen Saal des Musikvereins Wien (natürlich lieben hunderte Millionen Menschen das Neujahrskonzert, no na, ich höre es auch gerne und habe es schon in Wien verfolgt).
Die Entrüstung, pardon, auf der Herrentoilette in Ebene 15 war groß. „Ich habe bewusst nur sehr verhalten geklatscht“, sagte ein 40-Jähriger.
Der Beifall war dünn, ich hörte – bei DEN Wiener Philharmonikern ! – nur ein einziges Bravo!
Ein*e Elphi-Mitarbeiter*in sagte mir wörtlich: „Wenn ich für dieses Konzert Geld ausgegeben hätte, hätte ich mich übergeben.“
Also, lieber Säugling: Schlafen Sie wohl, genießen Sie morgen Mamas Brust und feier mit ihr den jüngsten Messiaen-Besucher weltweit aller Zeiten. Respekt, dass Sie am Montag so lange durchgehalten haben.
In der Elphi!
Andreas Schmidt, 5. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Die Elbphilharmonie vergrault ihr Publikum Klassik-begeistert.de 4. September 2022
Rotterdams Philharmonisch Orkest, Yannick Nézet-Séguin Dirigent, Elbphilharmonie, 27. April 2022
Elbphilharmonie Hamburg, Publikum, Entgleisungen, Peinlichkeiten 27. Juni 2022
Elbphilharmonie Hamburg, Die Jacken der Spacken klassik-begeistert.de, 16. Januar 2022
Bei der Turangalila-Sinfonie erging es mir vor etlichen Jahren im Wiener Konzerthaus ebenso. Man muss wahrscheinlich ein Farbhörer sein. Einerseits üben Messiaens Werke auf mich eine Faszination aus, auf der anderen Seite wirken seine Kompositionen – man verzeihe – autistisch. Jahrelang habe ich im Döblinger Kultursalon Olga im Advent im Hinblick auf die bevorstehende Weihnachtszeit Lesungen gehalten. Einmal wollte ich stattdessen eine Aufnahme von Messiaens Klavierwerk „Vingt regards sur l’Enfant Jésus“ bringen. Jeder der zwanzig Sätze hat ein Thema, das als Überschrift mitgeteilt wird. Doch verwarf ich die Idee wieder, weil ein Bezug zur Musik unauffindbar blieb.
Lothar Schweitzer
Ich war gestern ebenfalls in dem Konzert. Ich bin dorthin gegangen, weil ich die Wiener Philharmoniker mit Messiaens Turangalila-Sinfonie hören wollte. Ich wußte, daß die Komponisten der „Kernkompetenz“ an diesem Abend nicht programmiert sind.
Jeder, der sich eine Karte kaufen will, kann sich vorher informieren, was programmiert ist und dann auch zu der Entscheidung kommen, sich keine Karte zu kaufen.
Wem ist also ein Vorwurf zu machen? Doch zum einen nur den Besuchern, die sich nicht vorher informiert haben und vielleicht auf den Radetzkymarsch gewartet haben, zum anderen den Eltern der beiden Kinder, die – warum auch immer – ihre Kinder an diesem Abend ins Konzert geschleppt haben. Das dauernde Rauslaufen der Besucher hat den Abend empfindlich gestört.
Lars Rüter
Lieber Andreas,
deine auf den Punkt bringende Schilderung des Konzerts lässt ein visuelles Miterleben, Mitfühlen auch im fernen Süden Deutschlands zu!
Ein herzliches Servus!
C. Sätteli
Montag muss der Kulturtag für Säuglinge gewesen sein, denn wir hatten in Wien – Staatsoper – auch drei Babies mit Flascherl auf der Galerie, die einen La-Bohème-Ausflug machten.
Fred Keller
Lieber Herr Keller,
waren das junge Sängerinnen in Karenz mit ihrem Nachwuchs? Oder war das ein Ausflug
von Helikopter-Müttern, die ihre Säuglinge stets im Blick haben und schon frühzeitig auf Hochkultur trimmen?
Oder sind das die neuen trendigen Mamis, die der Welt beweisen, dass sie auf nichts verzichten müssen?
Ob die Babies das wohl lustig gefunden haben oder die Ruhe im trauten Heim vorgezogen hätten?
Was wird sich wohl Anna Netrebko nach längerer Bühnenabstinenz gedacht haben?
Und hat die Wiener Staatsoper schon heiße Milchgetränke in der Pause im Angebot?
Herzlich,
Andreas Schmidt, Herausgeber
Werter Hausherr, wie kommen die Lütten eigentlich in das bekannteste Opernhaus der Welt?
Und begrüßen Sie die laxe Türpolitik Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Last not least:
Was schätzen Sie, wie viele Zuschauer diese drei kleinen Zwerge genervt haben?
Lieber Herr Schmidt,
man höre und staune: offenbar kommt so etwas auch in so erlauchten Häusern wie der von Ihnen so hoch geschätzten Wiener Staatsoper vor. Heute gelesen im OnlineMerker.
Zitat:
…Es ist mit unverständlich, warum man Frauen mit Babys oder Kleinstkindern in die Oper einlässt. Bis zur Pause wurde das Publikum auf der Galerie von einem andauernd schreienden und weinenden Kind gestört. Und die Tatsache, dass ausgerechnet jetzt die kaputten Betonblöcke auf der Terrasse der Galerie getauscht werden, wo man gerade noch wettermäßig vor der Vorstellung und in der Pause frische Luft genießen könnte, ist äußerst ärgerlich.
Zitat Ende.
Beste Grüße
A. Evers
Liebe Frau Evers,
herzlichen Dank für Ihren Kommentar. Wann genau hat das Kind in der Wiener Staatsoper geschrieen?
Herzlich
Andreas Schmidt
Das las ich heute in einem Kommentar von Herrn Nowotny zur Vorstellung von „La Bohème“ mit Anna Netrebko am 5.9.2022:
https://onlinemerker.com/wien-staatsoper-la-boheme-erste-vorstellung-der-beginnenden-saison-und-diese-gleich-in-starbesetzung/
Schade, dass sich jemand hat abbringen lassen, am 2.9.22 Mahler Zweite zu besuchen. Schon vor dem Auftritt des Orchesters, der sich geringfügig verzögerte, war das Publikum völlig still, wie ich es nirgendwo vorher erlebt habe. Auch in den Pausen zwischen den Sätzen kam keine Unruhe auf. Am Ende Stille, dann entlud sich langer begeisterter Jubel.
Es war das eingetreten, was ich erhofft hatte. Nach alledem, was ich über das Verhalten in der Elphi gelesen hatte, war mir klar: Es muss ein Anrechtskonzert eines der einheimischen Orchester sein, zu dem Menschen gehen, die wissen, was sie erwartet. Als ich die Ankündigung des Konzertes zur Saisoneröffnung der NDR Elbphilharmonie las, war mir klar, das lohnt die Reise von Berlin und wird eine würdige Bekanntschaft mit der Elbphilharmonie. Wir wurden nicht enttäuscht, sondern konnten unter besten musikalischen und aufführungstechnischen Bedingungen einen beglückenden Abend mit Mahlers ergreifendem Werk erleben. Es geht also doch, nur nicht bei von Reiseanbietern feilgebotenen Konzerten von Gastorchestern.
Hans Kuschinsky