Foto: © Werner Kmetitsch
Theater an der Wien, 25. März 2019
Peter Iljitsch Tschaikowski, Die Jungfrau von Orleans
Regie: Lotte de Beer
Musikalische Leitung: Oksana Lyniv
Besetzung: Lena Belkina, Willard White, Raymond Very, Dmitry Golovnin, Simona Mihai, Martin Winkler, Kristján Jóhannesson, Daniel Schmutzhard u.a.
Arnold Schoenberg Chor, Kinderballett Dancearts
Wiener Symphoniker
von Herbert Hiess
Wenn die Niederländerin Lotte de Beer anfängt zu inszenieren, kann man auf alle Fälle eine Aufführung abseits von Konventionen erwarten. So wurde man diesbezüglich auch bei der allzu selten gespielten Tschaikowski-Oper Die Jungfrau von Orleans nicht enttäuscht.
Die Regisseurin sieht die Schillersche Tragödie (angeblich nach einer wahren Begebenheit) als Traum eines widerspenstigen, pubertierenden und nach Verständnis bei ihrem Vater suchenden Mädchens. Großartig, wie keine Sekunde Langeweile auch nur im Ansatz aufkeimen konnte und wie Lotte de Beer die schwierige Handlung sozusagen „mundgerecht“ aufbereitete.
Es wurden dabei viele Stilbrüche in Kauf genommen und etwas zu viel Bühnenrauch inhaliert. Abseits davon flog man durch ein Kaleidoskop von einem zeitgemäßen Teenager-Zimmer über eine gemäldeartige Bühnenaufstellung (offenbar nach Rembrandt) bis hin zu einer bühnenakrobatischen (offenbar durch die Popsängerin Pink inspirierte) Einlage von Johanna und Lionel.
Musikalisch war die gesamte Aufführung sehr kompakt; ja vielleicht sogar manchmal etwas zu kompakt. Maestra Lyniv ist eine begabte Dirigentin, die umsichtig und mit sauberer Schlagtechnik die Musiker zusammenhält. Das gelingt ihr auch bis auf ein paar wenige Takte.
Viel mehr hätte sie auf die Balance der einzelnen Instrumentengruppen achten sollen. So gelangen ihr manchmal ein paar wunderschöne und berührende Pianissimistellen vor allem am Beginn des Liebesduetts Lionel/Johanna im vierten Akt, die sogleich durch unsensible Kontrabass-Pizzicati zerstört wurden.
Und von Pianissimo-Singen hält der Lionel-Sänger Kristján Jóhannesson offenbar auch nicht wirklich viel. Ansonsten hätte er nicht mit einem Mezzoforte die schöne Stimmung in diesem Duett beeinträchtigt.
Leider war auch das Orchester bei der Aufführung „zweigeteilt“. Während die Streicher, Schlagwerk und Blechbläser exzellent spielten, waren einige der Holzbläser manchmal verstimmt und unsauber (hier vor allem die Soloflöte und das Englischhorn). Darauf hat die Dirigentin natürlich keinen Einfluss; jedoch trübt es etwas die Stimmung.
Die Sängerbesetzung war vom Allerfeinsten, allen voran die großartige Lena Belkina und Sir Willard White. Sir White ist einer der Lieblingssänger von Sir Simon Rattle und war lange Zeit als Porgy (in der Oper „Porgy and Bess“ von George Gershwin) eine unumgängliche Besetzung.
Er ist ein Bassbariton mit Charisma, der auch mit seinem sonoren Bassbariton Emotionen hörbar machen kann. Als Johannas Vater konnte er den fast unüberbrückbaren Generationenkonflikt sehr glaubhaft machen.
Und auch Frau Belkina machte das mit ihrem Spiel als Johanna in dieser großartigen Regie sehr glaubhaft. Sie besitzt eine wunderschöne und eine sehr tragfähige Stimme, die sie auch sehr mit Emotionen füllen kann. Und nicht zuletzt bezaubert sie mit ihrem berührenden Spiel. Sie war sowohl als junges, widerspenstiges Mädchen als auch als Heroine im Stahlkorsett mehr als glaubhaft.
Eigentlich verwunderlich, dass sie als Mezzo geführt wird – ihre Stimme hat weit mehr Sopran-Charakter als bei vielen ihrer Kolleginnen.
Die zwei Tenöre Dmitry Golovin als neurotischer König Karl VII und Raymond Very als Johannas Verlobter Raimond – ja, die Namensgleichheit gibt es tatsächlich! – konnten mit ihren wunderschönen Stimmen überzeugen und der Bass Martin Winkler spielte und sang glaubhaft den schmierigen Erzbischof von Reims. Schön gesungen hat auch der Bariton Daniel Schmutzhard als Dunois mit seiner nicht allzu großen; dafür aber sehr fein geführten Stimme.
Herbert Hiess, 26. März 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Lotte de Beer liegt im Trend religiöse bzw. biblische Themen zu säkularisieren. Das ist ihr zum Beispiel voriges Jahr in Köln – und davon bin ich Zeuge – mit „Mosè in Egitto“ sehr gut gelungen. Nach langen Überlegungen verzichtete ich auf einen Besuch im Theater an der Wien, weil ich die Schiller´sche Vorlage für historisch unzuverlässig halte. Das ist bei seinen anderen Dramen oft nicht viel anders.
Lothar Schweitzer
Herr Schweitzer, welche veroperten oder nicht veroperten Geschichtsdramen halten Sie denn für historisch zuverlässiger? Boykottieren Sie auch Shakespeare?
Rolf Fieguth