Ritterbands Klassikwelt 7 / 2019: Toscas verschwundenes Bein

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Auf ihrem Grabstein steht in goldenen Lettern: Sarah Bernhardt 1844 – 1923. Im Grab modern ihre sterblichen Überreste – minus ihr rechtes Bein. Dieses ruhte an einem wesentlich weniger feierlichen Ort: Fast 600 Kilometer südwestlich von Paris, in einem Depot der Medizinischen Fakultät an der Universität von Bordeaux.

von Charles E. Ritterband

Während die Netrebko gegenwärtig an der Mailänder Scala als Floria Tosca neue Triumphe feiert, fallen mir einige der zahlreichen Anekdoten ein, die sich um Puccinis Oper ranken. Da wäre vor allem jene bekannte Geschichte mit der Sängerin, die sich beim Bühnenpersonal so unbeliebt gemacht hatte, dass diese der Diva einen bösen Streich spielten: Sie platzierten hinter der Engelsburg statt der üblichen Matratzen, die den Todessprung der Tosca aufzufangen hatten, ein Trampolin. Und die verdutzte Sängerin, statt wie vorgesehen im Jenseits zu verschwinden, tauchte hinter der Kulisse mit einem ungeplanten Luftsprung wieder auf. Sehr zur Begeisterung des Publikums.

„Se non è vero è ben trovato“, pflegen die Italiener treffend zu sagen: Wenn es nicht wahr ist, so ist es doch zumindest gut erfunden… Andere Anekdoten berichten von einem Exekutions-Kommando, das derart schlampig instruiert war, dass es die Gewehre auf Tosca statt auf ihren geliebten Maler Cavaradossi richtete. In einer anderen Geschichte waren diese Statisten ungenau instruiert worden: Sie hätten die Bühne gleichzeitig mit den Hauptdarstellern zu verlassen. Resultat: Alle Soldaten sprangen hinter Tosca die Engelsburg hinab.

In einer anderen Anekdote soll die aufgeregte Tosca bei ihrer Flucht vor den Häschern versehentlich einen Stapel Kanonenkugeln – aus Gummi – angekickt haben. Diese rollten ins Orchester – die Musiker gingen in Deckung. Und im Akt II soll einmal ein Bühnenbrand nur knapp verhindert worden sein, als Tosca nach der Ermordung Scarpias skriptgemäß die beiden Kerzenleuchter neben dem Kopf des toten Tyrannen aufstellte und dabei – um ein Haar – dessen Perücke in Brand gesetzt haben soll.

Eine makabre Geschichte

„Tosca“ ist bekanntlich eine ziemlich makabre Geschichte – zumal die große Operndiva die vom Bösewicht intendierte Schäferstunde mittels eines vom Esstisch Scarpias entwendeten Messers flugs in eine Mordszene verwandelte. Und dass die Bosheit des Scarpia über seinen Tod hinauswirkte, indem die von ihm scheinbar angeordnete Scheinhinrichtung des Malers Cavaradossi eine echte Hinrichtung war, war doch geradezu genial infam.

Nun, die Realität schreibt bekanntlich oft die noch bessere Geschichten – oder, in diesem Fall, eine mindestens so makabre: Vor nunmehr 104 Jahren amputierte ein Chirurg in Bordeaux das rechte Bein von Sarah Bernhardt, genau oberhalb des Knies. Das abgesägte Bein der legendären Schauspielerin, fachgerecht konserviert in Formaldehyd, wurde vor genau zehn Jahren wiederentdeckt – und zwar in einem Lagerraum der Universität von Bordeaux, wo unter anderem gruselige medizinische und kriminologische Kuriosa aufbewahrt werden: Von Geschossen durchsiebte Schädel, Pistolen, die in blutigen Mordtaten Verwendung fanden, Seile von Galgen und Föten abgetriebener siamesischer Zwillinge.

Ein seltsamer Aufbewahrungsort für jenen Körperteil der „göttlichen Sarah“, dieses wohl größten aller Superstars der Sprechbühne im 19. und frühen 20. Jahrhundert…

Bernhardt war 71 Jahre alt, als sie jene Amputation anordnete. Sie deponierte ihr Anliegen bei einem ihrer Liebhaber, dem Chirurgen Samuel Pozzi. Als dieser angesichts des doch eher ungewöhnlichen Wunsches zögerte, drohte sie kurzerhand, sich ins eigene Bein zu schießen: „Dann müssen sie es amputieren, ob sie wollen, oder nicht“, soll sie gesagt haben. Doch was hat das mit der „Tosca“ zu tun?

Die Schauspielerin, ursprünglich Amerikanerin aus dem Mittleren Westen, sang zwar nicht die „Tosca“ – sie verkörperte sie aber als Sprechrolle. Und zwar in Victorien Sardous Tragödie, welche Puccinis Oper zugrunde lag. Wie in der späteren Oper hatte sich die Schauspielerin von der Engelsburg in den Tod zu stürzen. Doch der wiederholte Selbstmord hatte das Knie der Bernhardt so arg beschädigt – sie litt unter einer extrem schmerzhaften Arthritis, dass eine Operation angeblich nicht mehr möglich war.

Außerdem war es die Schauspielerin leid, dass sie durch ihr verletztes Knie in ihrer Bewegungsfreiheit arg eingeschränkt wurde. Sie stellte sich vor, dass sie sich mit einer Holzprothese auf der Bühne wesentlich besser bewegen könnte als mit ihrem kaputten Bein. Inzwischen hatte sich in der Medizin die Anästhesie mit Hilfe von Äther etabliert – das versprach eine relativ schmerzfreie Prozedur.

Pozzi führte die Operation nicht selbst durch, er beauftragte einen jungen Chirurgen namens Maurice Denucé mit der Operation. Diese wurde in Bordeaux durchgeführt. Denucé telegraphierte Pozzi, dass der Eingriff gelungen sei, nur eine Viertelstunde gedauert habe und mit einem Minimum an Äther und geringem Blutverlust durchgeführt werden konnte. Die Bernhardt soll, als sie sanft einschlummerte, die „Marseillaise“ geträllert haben…

Traviata auf der Sänfte

Lediglich acht Monate nach dem schweren Eingriff verkörperte sie bereits jene andere tragische Figur der Opernliteratur: Verdis Traviata – als „Kameliendame“, der Hauptfigur des Romans und späteren Theaterstücks von Alexandre Dumas fils, „La Dame aux camélias“.  Ungewöhnlicherweise verkörperte die Bernhardt diese Rolle in einer Sänfte. Denn die Idee mit dem Holzbein hatte sich als unpraktibel erwiesen.

Nachdem sie eine größere Anzahl Prothesen getestet hatte, optierte sie für diese für sie typisch exzentrische (und wesentlich komfortablere) Lösung: Eine vergoldete Sänfte im Stil des französischen Königs Louis XV, von zwei Dienern getragen. Wenn gerade keine Sänftenträger zur Hand waren, nahm sie mit einem gewöhnlichen Rollstuhl Vorlieb.

In Paris machte damals der spöttische Spruch die Runde „Mère la Chaise“ – eine Anspielung auf den Pariser Prominentenfriedhof „Père Lachaise“. Es war eine Ironie des Schicksals, dass sie acht Jahre später, 1923, im Alter von 78 Jahren tatsächlich auf dem Friedhof Père Lachaise beigesetzt wurde.

Mindestens 30 000 Trauernde folgten ihrem Sarg. Auf dem Grabstein steht in goldenen Lettern: Sarah Bernhardt 1844 – 1923. Im Grab modern ihre sterblichen Überreste – minus ihr rechtes Bein. Dieses ruhte an einem wesentlich weniger feierlichen Ort: Fast 600 Kilometer südwestlich von Paris, in einem Depot der Medizinischen Fakultät an der Universität von Bordeaux.

Doch ein Jahrhundert später galt das amputierte Bein der Bernhardt als verschollen. 85 Jahre später wurde es wiederentdeckt. Doch der Präsident der Fakultät für Wissenschaft und Gesundheit an der Universität von Bordeaux, Professor Manuel Tunon de Lara, reagierte ungehalten auf die Anfrage eines Journalisten: „Wir haben das Bein nie verloren. Es geriet lediglich in Vergessenheit.“ Doch er habe einen Assistenten angehalten, das Bein zu reinigen und so zu präparieren, dass es ausgestellt und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden könne. Denn im Moment sei es „nicht in sehr gutem Zustand“.

Doch nachdem das Bein säuberlich gereinigt war und, ordentlich etikettiert, in einem Glasgefäß ausgestellt wurde, meldeten sich sofort die Zweifler. Denn das Etikett auf dem ursprünglichen  Behälter war inzwischen kaum mehr lesbar. Und vor allem: was da in Formaldehyd lag, war ein linkes Bein. Also genau das falsche. Denn, wir erinnern uns: Amputiert wurde das rechte Bein der unsterblichen Sarah Bernhardt…

Dr. Charles E. Ritterband, Wien, 15. Dezember 2019, für
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Der Publizist und Journalist Dr. Charles E. Ritterband, 66, geboren in Zürich / Schweiz, ist Verfasser mehrerer Bestseller („Dem Österreichischen auf der Spur, „Österreich – Stillstand im Dreivierteltakt“ sowie „Grant und Grandezza“) und hat als Auslandskorrespondent 37 Jahre aus London, Washington, Buenos Aires, Jerusalem und Wien für die renommierte Neue Zürcher Zeitung (NZZ) berichtet. Er studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Staatswissenschaften an den Universitäten Zürich und Harvard sowie am Institut d’études politiques de Paris und an der Hochschule St. Gallen. Seit Kindesbeinen schlägt Charles’ Herz für die Oper, für klassische Konzerte und für das Theater. Schon als Siebenjähriger nahm ihn seine Wiener Oma mit in die Johann-Strauß-Operette „Eine Nacht in Venedig“. Die Melodien hat er monatelang nachgesungen und das Stück in einem kleinen improvisierten Theater in Omas Esszimmer nachgespielt. Charles lebt im 4. Bezirk in Wien, auf der Isle of Wight und in Bellinzona, Tessin.

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