CD: György Kurtág: Complete Works for Ensemble and Choir
Label: ECM Records (c)
Mitwirkende: Asko/Schönberg Ensemble; Netherlands Radio Choir unter der Leitung von Reinbert de Leeuw; Natalia Zagorinskaya (Sopran), Gerrie de Vries (Mezzosopran), Yves Saelens (Tenor), Hatty van der Kamp (Bass), Jean-Guihen Queyras (Violoncello), Elliott Simpson (Gitarre), Tamara Stefanovich (Klavier), Csaba Király (Pianino, Sprecher)
Kennung: ECM New Series 2505-07 (481 2883)
eine Rezension von Raphael Eckardt
György Kurtág darf man spätestens seit dem Tod von Pierre Boulez im vergangenen Jahr als den großen Altmeister der lebenden Komponistengeneration bezeichnen. Kurtàg ist in diesem Jahr 91 Jahre alt geworden – sein Oeuvre umfasst gerade einmal etwa 50 Opusnummern. Beinahe meditativ-langsame, aber unglaublich selbstkritische Kompositionsarbeit gehört seit jeher zum Markenzeichen des ungarischen Komponisten. Und genau daraus resultiert ein einzigartiges Musikvermächtnis, das Kurtág uns da einmal hinterlassen wird. Qualität ist eben nicht Quantität! Und das hat Kurtág wie kein Zweiter verstanden.
Da erfreut es umso mehr, dass ECM Records nun ein dreiteiliges CD-Set auf den Markt gebracht hat, das ihn auf ganz besondere Weise ehrt. Mit dem Titel „Complete Works for Ensemble and Choir“ gelingt dem niederländischen Dirigenten Reinbert de Leeuw, selbst auch ein Vertreter der Nachkriegs-Komponistengeneration, mit dem Asko/Schönberg Ensemble eine Aufnahme, die einen Meilenstein in der Verbreitung von Kurtágs Musik darstellt. Mit Werken von 1959 bis 2011 ist beinahe die gesamte Schaffensperiode des Komponisten auf den CDs vertreten. Und da dürften sich auch Musikwissenschaftlern durchaus Tore öffnen, die diesen leider noch relativ unerforschten Komponisten in ein ganz neues Licht rücken.
De Leeuw und Kurtág selbst arbeiteten bei den Aufnahmen eng zusammen. Nach jeder Sitzung fand ein Austausch zwischen Komponist und Dirigent statt; da verwundert es nicht, dass das Resultat ein phänomenal unverfälschter Klang ist, den man so in einer Aufnahme noch nicht zu hören bekommen hat.
Mit dem Titel wird der Hörer ein wenig in die Irre geführt: Denn, wer Kurtág näher kennt, weiß, dass sich mit seinen Werken für Ensemble und Chor keineswegs drei CDs füllen lassen. So beinhalten diese CDs nicht nur sämtliche Werke für Ensemble und Chor, sondern auch alle Ensemblewerke ohne Chor. Der Begriff „Ensemble“ wurde allerdings gerade in den letzten Jahren zunehmend recht weitgefasst. Da erstaunt es nicht, dass de Leeuw ein Werk, das beispielsweise für eine Solostimme und/oder einen oder ein paar Instrumentalisten komponiert wurde, als Ensemblestück bezeichnet. Sei’s drum! Kurtág bleibt Kurtág – und Kurtág und Kurtág harmonieren eigentlich immer recht gut.
Mit vier Capriccios Op. 9 für Singstimme und Ensemble gelingt de Leeuw und dem Asko/Schönberg Ensemble eine standesgemäße Eröffnung. Die unfassbare Detailarbeit, die der Niederländer hier auf’s Tonband bringt, lässt wohl die meisten Hörer bewundernd staunen. Beinahe schockierend, ja grenzüberschreitend, wird eine surreal anmutende Welt erschaffen, die in Extremen verharrt: Schönheit, Bizarrheit und Grausamkeit. Und vielleicht ist es diese blitzsaubere Artikulation, die dafür verantwortlich ist, dass alles so unfassbar authentisch wirkt. Da muss man auch die Sopranistin Natalia Zagorinskaya loben. Es ist wahrlich kein Kinderspiel, Kurtágs Musik sauber zu intonieren. Zagorinskaya intoniert nicht sauber – sie intoniert blitzsauber! Mit gekonnter Agogik und herzzerbrechenden Emotionen vollendet sie de Leeuws Perfektionismus. Bravo!
Die Vier Lieder zu Gedichten von János Pilinszky überzeugen auf ähnliche Art und Weise. Auch hier wird ein Klangbild geschaffen, das Kurtágs Musik unmissverständlich vorgibt. Aber es ist wieder die besondere Detailarbeit, die de Leeuws Interpretation auszeichnet. Wolfgang Sandner schreibt in einem Beitrag über Kurtágs Musik (der Beitrag ist im Booklet des CD-Sets zu finden), der verschlungene Pfad eines Künstlers in die Öffentlichkeit lasse sich als ein Labyrinth aus Richtungen und Verzweigungen beschreiben, deren Muster dem komplexen Zusammenwirken von autobiografischen Details und gesellschaftlichen Normen entspringt. Da hat Sandner Recht, nur schreiben eben sehr wenige Komponisten so emotionale Musik, die konsequent in Grenzbereichen verharrt, wie Kurtág . Reinbert de Leeuw hat sich in einem Jahrzehnte andauernden Prozess an die Musik Kurtágs herangetastet – und er scheint Ähnliches durchlebt zu haben wie der Komponist selbst. Da werden sogar über Tonträger Emotionen in ihrer selbstdurchlebten Reinform übermittelt: Das ist ganz, ganz große Kunst!
Einzig das Doppelkonzert für Violoncello und Klavier zeigt, dass es immerhin auch – wenn auch nur kurz andauernde – monotone Phasen in Kurtágs Leben zu geben scheint. Doch auch hier bricht de Leeuw stetig vorherrschende Sphären durch ihr jeweiliges Gegenteil: Hat sich gerade einmal ein wenig Ruhe eingestellt, explodiert förmlich ein Feuerball: Emotionsausbrüche! Leiden und Leidenschaft! Das hat beinahe etwas Manisches, was einem da vermittelt wird. Und allein das Zuhören erfordert emotional enorm viel Kraft. Kurtágs Musik ist nichts für einen Konzertbesucher, der sich gerne zum Start ins Wochenende mit einem sanft anmutenden Klavierkonzert Mozarts berieseln lässt. Kurtágs Musik ist die Chance auf eine Begegnung mit den verborgenen Bereichen unserer Seele. Und das vermittelt de Leeuw wie kein Zweiter!
Konzentration, Emotion, Faszination: Selten hat eine CD-Veröffentlichung dieses Umfangs den Hörer so gefordert, wie es de Leeuws Kurtág-Projekt tut. Und das macht diese Scheibe zu einem so unfassbar wertvollen Schatz für Musikliebhaber. Kurtágs Musik ist keine Musik, die der durchschnittliche Klassikhörer im CD-Regal stehen hat. Es ist Nischenmusik, die bei jenen, die sich darauf einlassen, viel fordert, andererseits aber auch sehr viel gibt. Eine tolle Erfahrung in atemberaubender Klangqualität. Da hat ECM wahrlich alles richtig gemacht! Die richtigen Interpreten, die richtigen Tontechniker und die richtige Aufmachung: Zu kaufen gibt es das dreiteilige CD-Set mit wunderschön aufbereitetem und sehr persönlichem Booklet, das stolze 90 Seiten umfasst, für einen fairen Preis von ca. 37 Euro. Ein Klangerlebnis in seiner Reinform und vielleicht sogar ein wenig mehr als das. Da fehlen einem wirklich die Worte. Fabelhaft!
Raphael Eckardt für klassik-begeistert.de