„In einer anderen Inszenierung mag Walhalla wie die Wall Street aussehen, Siegfried ist ein Hippie und Wotan der Leiter eines großen Konzerns. Aber ich beschloss, diese Geschichte so einfach wie möglich zu erzählen.“
Ein Gespräch mit Tankred Dorst (1925-2017)
Foto: Jolanta Lada-Zielke mit dem Regisseur und Dramatiker Tankred Dorst. Das Bild entstand im Jahr 2006 im Restaurant Bürgerreuth in Bayreuth.
von Jolanta Lada-Zielke
Zurück zu Wagners „Ring“ in der Inszenierung von Tankred Dorst bei den Bayreuther Festspielen 2006:
In der letzten Vorstellung von „Die Walküre“ in der Saison 2006 gab es eine Änderung in der Besetzung des Siegmunds: Anstelle von Endrik Wottrich trat Robert Dean Smith auf, der zu dieser Zeit auch den Tristan sang. Eine Professorin der Musikwissenschaft aus Serbien, die im Festspielhaus neben mir saß, fragte erstaunt: „Haben die so viele Sänger zur Verfügung, dass sie so schnell einen Ersatz gefunden haben?“ Ich wusste nicht, ob Smith als Ersatz für Wottrich vorgesehen, oder ob das eine unerwartete Vertretung war.
Wie ich schon erwähnt hatte, hingen in der Inszenierung des „Ring“ von Tankred Dorst die mythologischen Elemente mit den modernen zusammen. Erst im letzten Teil der Tetralogie – „Die Götterdämmerung“ – standen sie plötzlich im direkten Kontakt miteinander. Der Regisseur versetzte die Handlung in ein Luxus-Hotel und stellte die Chorsänger als Trauungsgäste von Gunther mit Brunhilde und Siegfried mit Gudrun dar. Sie waren schick angezogen, tranken Champagner und nahmen an einer großen Gala teil. Wie mir später ein Freund aus dem Festspielchor erzählte, fand sogar das Champagnertrinken unter der Leitung des Dirigenten (Christian Thielemann) statt. Wahrscheinlich war das aber kein echter Champagner, den die Darsteller in ihren Gläsern hatten…
Ehe die Trauungspaare den roten Teppich betraten, lief darüber eine Figur im schwarzen Trikot mit gemaltem Todesabbild darauf. Sie wurde sofort verjagt, aber die gedrückte Stimmung blieb. Im Finale, wenn die ganze Walhalla brennt, fliehen die Gäste aus dem Hotel mit Koffern, Kindern, Spielzeugen, einige werden von der Katastrophe überrascht und sind nicht einmal vollständig bekleidet.
Tankred Dorst erzählte mir von der Vorbereitung seiner Inszenierung:
„Die erste Frage, die sich ein Regisseur stellen sollte, ehe er mit der Arbeit anfängt, lautet: Wann geschieht das alles? Also wann findet die Handlung des „Rings“ statt? Bei Wagner geschieht dies fast gleichzeitig mit der Erschaffung der Welt. Der Anfang findet noch ohne Menschen unter der Rheinoberfläche statt; unter Wasser, das die Unendlichkeit der Zeit symbolisiert. Die ersten Charaktere, die hier erscheinen, sind die Rheintöchter und der Zwerg Alberich.
Im letzten Teil – „Die Götterdämmerung“ – wird die Welt in der Konvention des 19. Jahrhunderts gezeigt; so wie sie sein könnte, weil niemand weiß, ob sie wirklich so war. Die Gibichungen werden als dekadente Gesellschaft dargestellt, die alles verehrt, was primitiv und barbarisch ist. Kein Wunder, dass sie begeistert auf das Auftreten von Siegfried und Brünnhilde als Vertreter der barbarischen Welt reagieren. Diese Art der dekadenten Gesellschaft findet man in der gesamten Menschheitsgeschichte, auch heute. Deshalb ist das Bühnenbild zeitgemäß. Auf der Bühne erscheinen von Zeit zu Zeit Gäste, Beobachter, Techniker, die am Auto arbeiten, Kinder, die Goldreste aus der brennenden Walhalla sammeln. Es dauert nicht lange; es ist nur ein Augenblick, ein Hinweis darauf, dass wir uns in der heutigen Welt befinden. Die von Wagner erfundenen Figuren – Götter und Halbgötter – versuchen, für sich einen Platz in dieser Wirklichkeit zu finden. Das war die Hauptidee dieser Inszenierung.“
Die Walhalla schafft vielfältige Möglichkeiten der Kreativität für Regisseure. Sollte sie dem griechischen Olymp oder eher dem Hades ähneln? In der Geschichte der Bayreuther Festspiele gab es verschiedene phantasievolle Darstellungen des Königreiches der germanischen Götter. In Tankred Dorsts Produktion sehen wir die Walhalla als ein Fragment eines Mosaikgewölbes mit einem riesigen Auge in der Mitte. Das allsehende Auge ist in der Götterwelt ebenso von der Vernichtung bedroht wie die Götter selbst; am Ende verbrennt es im alles verschlingenden Feuer.
„Walhalla hat nichts mit der Realität zu tun“, so Dorst. „Ein echtes und dauerhaftes Element ist ein Teil der Autobahn im Wald, ein Fabrikraum, die Oberfläche des Rheins. Walhalla hingegen hängt in der Luft und obwohl sie einem Steingebäude mit einem Umriss eines großen Auges in der Mitte ähnelt, existiert sie nur als eine Vision, die letztendlich beseitigt wird. Mir ist bewusst, dass sie einige Regisseure auf moderne Weise interpretieren. In einer anderen Inszenierung mag Walhalla wie die Wall Street aussehen, Siegfried ist ein Hippie und Wotan der Leiter eines großen Konzerns. Aber ich beschloss, diese Geschichte so einfach wie möglich zu erzählen.“
Jolanta Lada-Zielke, 03. Mai 2020, für
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Jolanta Lada-Zielke, 48, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anlässlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA. Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den Zwanzigern und Dreißigern. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.